Der ganze Lynch zum Lesen.

Wir trauern um David Lynch, einen der grossen Regisseure der Filmgeschichte, der am 15. Januar 2025 verstarb. Der vorliegende Text ist kein Nachruf (aber ein wenig so lesbar), sondern eine Buchrezension, die zufälligerweise kurz vor seinem Tod fertiggestellt wurde.

Man denkt so über die Jahrzehnte, man kenne seinen Lynch. David Lynch hat stets zeitgemäße und gleichzeitig zeitlose Meisterwerke geschaffen. ERASERHEAD und THE ELEPHANT MAN fingen mit ihrem Schwarzweiß auf surreale und sonderbare Weise den Zeitgeist der Endsiebziger ein: Missgebildete Körper erinnerten an die selbst zugefügten „Missbildungen“ der Punkmode jener Zeit, gezeichnet von entleerten Industrieanlagen wie im Prä-Thatcher-England. BLUE VELVET führte die Themen des 1980er-Jahre-Thrillers, Infiltration der Kleinbürgeridylle und Destabilisierung der Identität, ins Extrem, während WILD AT HEART die Gewalt und Drastik einer nicht-mehr-sublimierenden Popkulturwelt auf einzigartige Weise darstellte. Natürlich parallel zu TWIN PEAKS, in dem der dunkeln, DeSadeschen Seite der Welt ein Schuss märchenhafte, esoterische Hoffnung (Dale Cooper) beigemengt wurde. Und nicht zuletzt perfektionierten Filme wie LOST HIGHWAY oder MULLHOLLAND DRIVE den tiefen Blick in die dunklen Seiten der Seele auf immer wieder neue Weise.

Aber kennt man seinen Lynch wirklich? Auch wer eins oder ein paar der Bücher über David Lynch gelesen hat, wird bei der Lektüre von „David Lynch begreifen“ ganz sokratisch zugeben müssen: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Ging mir jedenfalls so. Denn auf leichte, unterhaltsame Art haben Jonathan Ederer und Film-Tausendsassa Adrian Gmelch ein Buch über David Lynch geschrieben, das alle (vor allem künstlerischen) Aktivitäten des höchst vielseitig tätigen Meisterregisseurs beschreibt. Ein Beispiel: Ich wusste zwar, dass Lynch vor langer Zeit mal einen Werbespot für die Schweizer Zigarettenmarke Parisienne gedreht hat (nebst Godard, Wenders und anderen), nicht aber, dass er noch für rund 20 weitere Brands Spots drehte. Dass nicht nur der vor zwei Jahren verstorbene Angelo Badalamenti Musik geschrieben hat, die Lynch massiv berührt hat, sondern dass Lynch stets selbst an seiner musikalischen Vision gearbeitet hat (neulich in 2024 veröffentlichte er übrigens sein bereits drittes Album mit seiner musikalischen Muse Chrystabelle, „Cellophane Memories“).

Der Titel von Ederer und Gmelchs Buch mag didaktisch anmuten, meint aber keinen trockenen Schulunterricht in Lynchologie. Vielmehr steht „David Lynch begreifen“ dafür, den ganzen David Lynch greifbar, fassbar zu machen. David Lynch greifen. Das umfasst ein breites Spektrum an Themen, und netterweise kommt allzu Biographisches nur am Rande vor. Eder und Gmelch konzentrieren sich auf das Lynchsche Universum, auf das, was den Künstler Lynch ausmacht, oder, in den Worten von Dokumentarfilmer Jon Nguyen: „David is constantly creating. If he’s not painting, he’s carving wood. If he’s not carving wood, he’s making music. If he’s not making music, he’s shooting a film. His passion and his energy goes into creating non-stop.” Wer kennt schon David Lynchs Bilder, die manchmal so unglaubliche Titel tragen wie “Change the Fucking Channel, Fuckface”, “Nothing is Making any Sense for Instance why is that Boy Bleeding from the Mouth” oder “Ricky finds out he has Shit for Brains”? Wer kennt seine Fotografien, die Frauen und Fabriken zu Fetischen stilisieren? Wer kennt sein Interesse für Design, mit einer Spannbreite von der Gestaltung für Teller bis hin zur Einrichtung eines Nachtclubs in Paris?

Zu einer riesigen Fülle an Fakten flechten die Autoren jeweils kleine und größere Anekdoten ein, die das Buch davor bewahren, zu einer Enzyklopädie zu verkommen. Im Gegenteil: Leserinnen und Leser könnten sich auch im Small Talk über Lynch wunderbar profilieren, liegen doch in jeder thematischen Ecke der Buchs ein paar Geschichtchen, die sich vor Publikum bestens erzählen lassen. Ob er nun für einen Enlightenmentkurs beim Gründer der transzendentalen Meditation einmal eine Million Dollar bezahlte, für ein Seminar, das sich als Telefonkonferenz herausstellte, oder weshalb die traurige, abgerockte Industriestadt Lodz (in Polen) zu einer seiner Herzensstädte wurde – immer erweist sich Lynch als spannende, eigenwillige Persönlichkeit voller Überraschungen.

Und weil‘s bisher noch nicht erwähnt wurde: Sein Werk wird auch stilistisch und motivisch aufgeschlüsselt, so dass man mit frischen Inputs auch seine Filme wieder sehen kann. Auf ebenso leichtfüßige Art, wie vorne im Buch Dinge wie Lieblingsstädte, Genüsse und Fetische abgehandelt werden, geht es im hinteren Teil um Humor, das Böse (BOB), Träume oder Tiere. Um all diese Themen übersichtlich und unterhaltsam unterzubringen, haben sich die Autoren einen Kniff ausgedacht: Die Kapitel erhalten enzyklopädische Markierungen, womit sich im Text immer wieder Bezüge zu anderen Themen herstellen lassen. Wem das jetzt etwas umständlich klingt, sei beruhigt. Die Bezüge wurden mit Bedacht eingesetzt und stören niemals den Lesefluss.

Fazit: Das Buch ist überaus reichhaltig und ebenso unterhaltsam. Und schafft es damit, in kurzer Zeit aus Lesern neue Lynch-Expertinnen und -Experten zu erschaffen.

Adrian Gmelch, Jonathan Ederer: David Lynch begreifen. Kunst – Kino – Kreativität. Büchner Verlag. Marburg, 2024

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