Es gibt zwar schwarze Handschuhe, aber es gibt nicht viel Blut. Umberto Lenzis zweiter Thriller von 1969 atmet den Giallo-Geist der später sechziger Jahre, ähnlich wie Fulcis NACKT ÜBER LEICHEN, und ist – was Drastik angeht – definitiv noch ein Prä-Argento-Giallo. Thematisch schließt Lenzis Film an seinen Vorgänger ORGASMO an: Dekadenz, Reichtum, freie Liebe – und gibt es hinter all dem auch noch sowas wie wahre Liebe … oder geht es etwa – Gott bewahre – doch immer nur um den schnöden Mammon? Idealismen aller Art zerbröckeln, weil das große Geld zum Lügen und Morden anstiftet. Die Durchlässigkeit der Oberschicht für allerlei skrupellose Menschen ist in gewisser Weise die Essenz vieler italienischer Gialli zwischen 1968 bis 1970.
(Das ist interessant, weil wir auch heute wieder von vielen Oberschichtsfilmen und -serien bombardiert werden, doch die Oberschicht heute, von A PERFECT COUPLE auf Netflix, über WHITE LOTUS auf HBO bis zu YOUR NEIGHBORS AND FRIENDS auf Apple+ braucht nicht das Fremde (meist Unterschichtige), um sich zu zersetzen. Die oberen Zehntausend werden heute als geschlossene Gesellschaft präsentiert, mit internen Problemen.)
SO SWEET … SO PERVERSE ist der zweite von vier Lenzi-Gialli mit Carroll Baker, ein komplexes Stück Doppelspiel zwischen Hitchcocks VERTIGO und Clouzots LES DIABOLIQUES, mit feiner Feder zusammengebaut von Drehbuchschreiber Ernesto Gastaldi. Mit viel Nacktheit frei Haus von Erica Blanc und gleichzeitig einer großartigen schauspielerischen Leistung, und nicht zuletzt mit einem der ganz Großen des französischen Films, Jean-Louis Trintignant.
Zum Titelsong „Why“ von Riz Ortolani (der eher an einen Bond-Song erinnert) fährt er erstmal durch Paris, eine Jagdflinte auf dem Rücksitz. Trintignant spielt Jean Renaud, einen wohlhabenden Pariser Industriellen, der in einer erstarrten Ehe mit der unterkühlt-sarkastischen Danielle (Erica Blanc) lebt und nicht nur Tontauben schießt, sondern sich als Jäger zu erkennen gibt, wenn es um Frauen geht. Seine erste Bettszene ist denn auch mit einer Geliebten (Helga Liné), die davon spricht, mit ihm jungfräulich-nackt in die Urwälder Afrikas zu gehen, zu dritt mit Renauds Frau. Seine Antwort ist vielsagend: Es gäbe nur noch „unberührte“ (jungfräuliche) Wälder. Leidet er darunter, dass es keine jungfräulichen Frauen mehr gibt? Dass ihm alles (Weibliche) zu einfach in den Schoß fällt?
Als er im vergitterten Lift die geheimnisvolle, blonde Neumieterin sieht, die nun über Danielles und seiner Wohnung eingezogen ist, beginnt seine Obsession. Dass hinter dem Gitter Nicole (Caroll Baker) für Jean nur teilweise sichtbar ist, gibt schon eine Vorahnung auf das kommende. Für ihn wird die Person Nicole den gesamten Film hindurch nicht in ihrer Gänze fassbar. Er wird sie stets als Gefangene sehen. Tatsächlich hört man von unten Streit, Schläge, eine Männerstimme – und Jean glaubt, er müsse eingreifen. Dem Mieterwechsel ist es zu verdanken, dass Jean immer noch den Schlüssel zum oberen Luxusappartement besitzt, fühlt sich heldenhaft angespornt, Nicole vor Karl (Horst Frank) zu schützen, ihrem gewalttätigen Ex. Als Jean zum ersten Mal in ihr Appartement schleicht, tritt er in eine andere, geradezu katholische Welt voll Schuld und Perversion – Heiligenbilder, Marienportraits und ein Schrein mit Messern, Peitsche und anderen Fetisch-Folterinstrumenten auf rotem Samt. Hier befinden wir uns nicht mehr in der gefühllosen, von Arbeits- und Jagdethos geprägten, liberalen Welt, sondern in einem von katholischen Vorstellungen und Pervertierungen geprägten Universum.

Immer tiefer gerät Jean in den Strudel von Abhängigkeit, Stalking, Besessenheit. Vertigomäßig folgt er Nicole. Als er seine Frau Danielle zu Dior fährt, sie aussteigt und Richtung Geschäft geht, folgt ihr die Kamera und bleibt in der Spiegelung eines Schaufensters hängen, in dem sich Jean gerade eine Zigarette ansteckt. Der blickt in eine andere Richtung und entdeckt eine blonde Frau. Von hinten, weggehend. Nicole? So wird durch sein gespiegeltes Ich eine Verfolgung initiiert, die Hitchcock-mäßig in einen steten Wechsel von blickendem Subjekt und Point-of-View-Shot aufgelöst wird. Er beobachtet Nicole durch die Windschutzscheibe, folgt ihr in seinem Auto. Das blaue, orientalische Muster auf ihrem Kleid ist so verschnörkelt wie die Liftgitter. Suchende POV-Shots abwechselnd mit seinem suchenden Blick. Bis er ihr schließlich in ein herrschaftliches altes Haus folgt, wo er hinter verschlossenen Türen wieder Geschrei und Schlägen zuhören muss. Spätestens hier dürfen wir an diese Tricks aus VERTIGO denken: hören ja, aber nicht sehen. Als Nicole aus der Wohnung rennt, in Jeans Arme (und einer der sparsam eingesetzten Zooms auf Jean folgt), sagt sie „Nimm mich mit.“
Die stürmische Affäre beginnt, mit einem Ausflug ans Meer. Romantik pur, aber an Details wie beim Wasserskiing zeigen sich Machtverhältnisse, die sich umgedreht haben: Nicole ist Steuerfrau im Sportboot, während sich Jean ziehen lässt. Sie ist in command. Wie ein sich absichtlich verratender Beschatter taucht auch Karl immer wieder auf. „Wie hat er uns gefunden?“, fragt sich Jean. Und irgendwann ist es dann soweit: Der Jäger Jean wird zum Opfer. Karl bringt Jean vor den Augen der beiden Frauen um, aber nicht vor den Augen der Zuschauer. Das raffinierte Rätselraten beginnt. Hat er ihn wirklich umgebracht? Oder lebt Jean noch? Und wer plottet mit wem gegen wen? Gastaldi und Lenzi schaffen eine Ungewissheit, halten das alles in der Schwebe, dass es ein wahrer Filmgenuss ist.
SO SWEET SO PERVERSE lotet eine ganze Welt der Swinging-Sixties-Emotionen aus. Einerseits wilde Parties mit Pop Art-Requisiten, knallbunten, coolen Kleidern, Drogentrips, Striptease, und verrückten Sexspielen: „Wer die Schmetterlinge fängt, muss mit einer Person, die ihm gefällt, schlafen. Ganz nackt und vor allen Personen.“ Das wird dann auf einen langen Zungenkuss, über eine Minute, herunterdekliniert. Alles in allem warnt Gastgeberin Danielle die mit Jean auftauchende Nicole mit den Worten: „Ich fürchte, die Party ist etwas libertin.“. Zum Kuss, natürlich trifft es Nicole und Jean, vor den Augen Danielles, lässt Lenzi eine laut hörbare Uhr auf der Audiospur ticken. So liebevoll ist der gesamte Film.
Aber auch die Beziehungsprobleme, die der ständige Lustüberschuss mit sich bringt, finden in der Beziehung von Jean und Danielle ihren Niederschlag. Während Danielle im durchsichtigen Négligée oder nackt durch die Wohnung spaziert, beantwortet sie Fragen wie „Warum hast du mich geheiratet, Danielle?“ mit der Faszination für seine Männlichkeit und mit dem Abebben dieser Faszination, die im gesellschaftspolitischen Satz mündet: „Das Bild des siegreichen und dominanten Mannes ist heutzutage eher aus der Mode gekommen.“
Hightlights wie eine irre Traumszene, in der Danielle mit völlig überrissenem Tempo im Porsche durch enge Landstraßen brettert, konsolidieren nebst dem absolut dichten, vielseitigen und dramaturgisch perfekten Plot das Bild eines 90-minütigen Films mit Stoff für eine Miniserie.

Così dolce… così perversa
Italien, Frankreich, Deutschland 1969
Regie: Umberto Lenzi
Drehbuch: Ernsto Gastaldi
Musik: Riz Ortolani
Darsteller: Jean-Louis Trintignant, Carroll Baker, Erika Blanc, Horst Frank, Helga Liné u.a.
Laufzeit: 98 min.