Mario Bava Exkurse (9): Die Wiederkehr der kosmischen Vergangenheit.

Ist der 1959 gedrehte und erschienene Riccardo-Freda-Film CALTIKI nun ein Freda oder ein Bava-Film? Die Bavalogen neigen sehr stark zur Ansicht, dass Freda das zu wenig anerkannte Talent Bava damit portieren wollte und sich noch am ehesten um die Dialogszenen gekümmert hat, den ganzen raffinierten und aufwändigen Action- und Special-FX-Teil aber Bava überließ. Auch das Script von Freda-Freund Filippo Sanjust orientierte sich an Motiven, die an H.P. Lovecraft erinnern, einem von Bavas Lieblingsautoren. Tatsache dürfte sein, dass der Film als Gemeinschaftswerk der beiden großen italienischen Regisseure gelten darf (und man damit nicht so falsch liegt).

CALTIKI beginnt mit einem Schwenk über eine düstere Nachtlandschaft im Norden Guatemalas. Bedrohlich dominieren Maya-Skulpturen im Bildhintergrund die Szenerie. Ein Archäologenteam will sich mit der Frage beschäftigen, weshalb die Mayas um 607 n. Chr.  die Stadt Tikal aufgegeben haben und nach Norden abwanderten. Tatsächlich ist der Kollaps der Maya-Zivilisation, der rund 800 bis 900 stattfand, selbst heute nicht befriedigend erklärt.

Los geht die Action. Eine Hand greift in einen Fels, ein von Panik gezeichnetes Gesicht lugt hinter dem Fels hervor (eine Aufnahme, die Bava später für seinen Erstling DIE STUNDE, WENN DRACULA KOMMT 1:1 verwendete): Ein Expeditionsmitglied flüchtet aus dem Nebel zurück ins Camp der Archäologen. Doch er, Nieto, wird sterben. Um dessen Tod genau zu untersuchen begibt sich das Forscherteam in eine Höhle, die sich als Tempel der Gottheit Caltiki herausstellt, verbunden mit einem Höhlensee, auf dessen Grund sich geopferte Menschen (in Form von Skeletten) und dargebrachtes Gold befinden. Dass ein Forscher auf die Idee kommt, den Geigerzähler anzuschalten und der tatsächlich auch anzeigt, weckt in uns schon die Vermutung, dass der Fluch eine wissenschaftliche Komponente aufweist. Hinter der Wiederkehr der alten Kultur wird auch Zukunft stehen.

Es folgt eine der vermutlich ersten Found-Footage-Szenen der Filmgeschichte: Das Team entdeckt die Kamera der Kollegen, sichtet den Film im Lager und entdeckt den Angriff von etwas Unbekanntem. Radikal verwendet Bava dabei Wackelkamera und Unschärfe. Der Impact dieser entfesselten Kameraführung muss damals enorm gewesen sein. Beim nächsten Besuch lernen wir das unförmige Monster kennen – dem berühmten Blob nachempfunden, doch mit organischerer Struktur (das kontrastreiche Schwarzweiß des Films half da bestimmt mit) -, das sich ausdehnt, Menschen schluckt und lediglich Skelette oder üble Wunden der Zivilisation wieder übergibt. Ein Einzeller bedroht die Welt – eine zeittypische, aber wunderbare Metapher dafür, dass uns dereinst Viren, Bakterien (oder Pilze) die Existenz kosten könnten.

Daneben weist der Film eine große Dichte an unterschiedlichen Erzählebenen auf. Im Camp wohnen wir auch einer Art Voodootanz der guatemaltekischen Supporter bei, mit einem erotischen Touch (Exotik und Tanz scheinen ein wiederkehrendes Motiv bei Bava zu sein, s. DIE RACHE DER WIKINGER). Und, wichtiger, die Beziehungsverstrickungen der Protagonistinnen und Protagonisten werden auch gleich als kaum lösbar eingeführt. Nach einem Streit von Professor John Fielding (John Merivale) mit seiner Frau Ellen (Didi Sullivan) macht sich der ungestüme Max Gunther (Gerhard Haerter) an Ellen heran. Er blitzt ab, denn an dieser Ehe wird es nichts zu rütteln geben. Zwischen Ellen und Max steht auch ein Klassenunterschied. Dafür zerstört Max gleich darauf die Avancen des Halbbluts Linda (Daniela Rocca), indem er sie auf die ethnischen Unterschiede verweist: „Such dir ein Halbblut!“ Nicht nur werden damit in CALTIKI Klasse und Ethnie Treiber der menschlichen Probleme, das Drehbuch identifiziert auch Max so sehr als Störenfried einer klassenloseren Ordnung (die Fieldings verstehen sich überaus gut mit Linda), dass er das Menschheitsproblem mit Caltiki auch auf individualpsychologischer Ebene spiegelt.

Die Verquickung beider Problemstellungen zeigt sich wie folgt: Max ist aus Gier nach den präkolumbianischen Goldschätzen in den Höhlensee getaucht und wurde vom größer werdenden Blob Caltiki an der Hand erwischt. John konnte ihn zwar befreien, doch zurück in Mexico City wird Max unidentifizierbar krank und liegt im Spital. Seine Haut degeneriert, er sieht aus wie Two-Face – und er beginnt zu morden und entkommt aus dem Spital. Gleichzeitig entwickelt sich Caltiki im Haus der Familie Fielding (ein kleines Töchterchen gehört auch dazu) zu ungeahnter Größe, verursacht durch einen Kometen, der nahe der Erde vorbeizischt („genauso sind die Mayas umgekommen“). Linda unterstützt Max, der es insgeheim inzwischen auch ins Fielding-Haus geschafft hat und nur noch von aggressiver Mordgier geleitet wird. Das alles bei Nacht und mit unglaublich guter kontrastreicher Beleuchtung in eigentlicher Film-Noir-Ästehtik.

CALTIKI spielt auch mit der Idee, dass das Vergangene weder verschwunden noch harmlos ist. Menschen, die zu sehr in die Gefilde der Natur eingreifen, können potenziell die gesamte Menschheit in Gefahr bringen. Damit werden damals populär gewordene ethnologische Theorien etwa von Claude Lévi-Strauss, dass Eingriffe auf fremde Kulturen destabilisierend sein können, auch auf vergangene, „schlummernde“ Kulturen ausgeweitet. Vor allem aber (und explizit inspiriert) ist CALTIKI  von H.P. Lovecraft, von der amorphen Bedrohung, dem kosmischen Ursprung. Bava selber war ein großer Lovecraft-Fan – und auf der aktuellen Bluray/DVD-Ausgabe von Wicked Vision befasst sich eine ganze Audiospur (die von Jörg Kopetz und Daniel Perée) mit einer vertiefenden Analyse der Lovecraft-Bezüge. Geradezu freudianisch findet schließlich das große Finale im Haus der Fieldings statt. Das Heimelige wird zum Unheimlichen, denn sowohl Max wie Caltiki terrorisieren das Haus und verwischen die Grenzen zwischen Vergangenheit und Zukunft, Wissen und Mythologie, dem Bewussten und dem Unbewussten.

Aber zum Schluss nochmal zur reichhaltigen neuen Ausgabe von Wicked Vision. Sie wurde von Bodo Traber neu und schön so vertont, dass der Geist der späten 1950er Jahre durchkommt. Dazu die erwähnte Lovecraft-Tonspur, aber dazu gibt’s auch je eine Tonspur für die beiden unangefochtenen Bava-Spezialisten Tim Lucas und Troy Howarth. Es gibt also kein Detail zur Produktion, zu den Schauspielern, zur Bava-Freda-Frage, das nicht besprochen wäre (deshalb auch nicht in dieser Filmkritik). Und last but not least:  Mit ein paar Bierchen kann man sich auch in Gesellschaft von Jörg Buttgereit, Matthias Künnecke und Gerhard Midding auf einen „Nerd-Abend“ freuen. Unterhaltsam und lohnenswert, also.

Caltiki il mostro immortale
Italien 1959
Regie: Robert Hampton (Riccardo Freda)
Drehbuch: Philip Just
Musik: Roberto Nicolosi

Kamera: Mario Bava
Darsteller: John Merivale, Didi Sullivan, Gerard Haerter, Daniela Rocca, Arthur Dominick u.a.
Laufzeit: 76 min.

Fotos: ©
Wicked Vision Distribution GmbH