Das Genre, in dem sich der neueste Stream-of-Consciousness-Film von Hélène Cattet und Bruno Forzani bewegt, ist der Europsy der Sixties. Ein Gedicht mit Geschichte. Ganz anders erzählt, chronologisch, aber zugleich fragmentiert, und einem visuellen Flow genauso wie einem plotmäßigen folgend. Jede Einstellung für sich ist ein Genuss, der jedoch sofort von der nächstfolgenden prachtvollen Einstellung egalisiert wird. So entsteht ein Bilderfluss, der ein ganz eigenes filmisches Erlebnis vermittelt.
Dazu gehört, dass es nicht einfach ist, sich an die Geschichte zu halten bzw. sich an der Geschichte zu halten. Nach dem Giallo und dem Spaghettiwestern wird hier ein weiteres „europäisches“ Filmgenre der 1960er Jahre in neue Kontexte gesetzt. REFLECTION IN A DEAD DIAMOND ist ein Film, „der das Universum von James Bond mit dem von Tod in Venedig vermischt – also ein ehemaliger Spion, der sein Leben, seine Vergangenheit Revue passieren lässt“, und dabei aber „eher in Richtung Eurospy als James Bond“ geht, wie Cattet und Forzani im Gespräch am Filmfestival in Neuchâtel zu Protokoll geben. Die Spy-Story handelt auf zwei Zeitebenen: in den 1960er Jahren und einem nicht näher definierten Heute. John D sitzt am Strand vor einem wunderschönen kleinen Hotel an der Côte d’Azur und erinnert sich an seinen unvollendeten Einsatz gegen die Einbrecherin Serpentik. Es geht um einen Deal mit Diamanten und Uranlieferungen, ersteres sichtbarer, zweiteres unsichtbarer MacGuffin in der Story. Diamanten als Glitzer, Spiegelungen und Vervielfachungen des Filmbilds. John D (im Alter: Fabio Testi; als junger Spion: Yannick Rénier) setzt eine eigene Agentin ein (Céline Camara), die im spiegelnden Paco Rabanne-Kleid den ominösen Markus Strand (Koen de Bouw) beim Roulettespiel verführen soll. Als in Anspielung auf Mario Bavas Einbrecher Diabolik Serpentik (später heißt sie einmal Kinetik) ins Spiel der Agenten kommt (als junge Diebin: Barbara Hellemans; im Alter: Maria de Medeiros), werden die Geschlechterrollen verkehrt. Die Frau, die stets Maske und Catsuit trägt, kann die Männer dominieren, die sie bekämpfen.
Neben den deutlichen Referenzen der Sixties-Eurospy Filme hat REFLECTION IN A DEAD DIAMOND zugleich auch die Bezüge zu experimentelleren Strukturen in 1960er Filmen: Jean-Luc Godard (weil Pop und Experiment), Alain Resnais bzw. Alain Robbe-Grillet (weil der Film nach den Gesetzen verschobener Wahrnehmungen funktioniert), Mario Bava (DIABOLIK, 1967, fumetti, Künstlichkeit) und Forzani/Cattet nennen als hauptsächlichen Einfluss Stoshi Kons Anime-Film MILLENNIUM ACTRESS (2001). „Beim Drehbuch war tatsächlich MILLENNIUM ACTRESS von Satoshi Kon unsere größte Inspiration – der Film hat uns damals 2001 sehr beeindruckt. Die Erzählstruktur war für uns völlig neu. Ehrlich gesagt ist das ein Drehbuch-Meilenstein der Filmgeschichte, aber da es ein Animationsfilm ist, wird das nie gewürdigt. Deshalb haben wir das Drehbuch ganz bewusst wie bei MILLENNIUM ACTRESS aufgebaut – mit ineinander verschränkten Erzählsträngen, inspiriert von Satoshi Kon.“
Wie Jean-Marie Samocki in den „Cahiers du Cinema“ festhält, scheint der Film auch vom Kino von Alain Resnais heimgesucht zu sein. Hält man sich nur schon Resnais’ L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (1961, Drehbuch: Alain Robbe-Grillet) vor das geistige Auge, macht das durchaus Sinn. Resnais’ Klassiker-Film entfaltet sich in zeitlichen und räumlichen Schleifen, Wiederholungen, Doppelungen desselben Moments: wie ein Erinnerungsprozess, der versucht, eine unklare Begebenheit zu rekonstruieren. Auch in REFLECTION IN A DEAD DIAMOND werden Erinnerungen aufgearbeitet und durch vielfache Spiegelungen, optische Täuschungen (der Film ist voll von OpArt-Visualität), Symmetrien und Wiederholungen aufgebrochen und wie bei Resnais ihrer Eindeutigkeit beraubt. Oder wie Cattet/Forzani ihr wunderbares kaleidoskopisches Werk definieren: „Es gibt einen einfachen Handlungsfaden, aber jedes Element wird mehrfach aufgeladen, verdoppelt, verdreifacht – sodass jede Szene mehrere Bedeutungen zulässt.“
Reflet dans un diamant mort
Belgien, Luxembourg, Italien, Frankreich 2025
Regie & Drehbuch: Hélène Cattet, Bruno Forzani
Darsteller: Fabio Testi, Yannick Renier, Koen De Bouw, Thi Mai Nguyen, Maria de Medeiros, Barbara Hellemans, Céline Camara u.a.
Laufzeit: 87 min.