Von Gerd Naumann
Sergio Martino gilt im Allgemeinen als der große, mitunter sträflich unterschätzte Handwerker des italienischen Genrekinos. Mühelos bediente er nahezu jede Gattung, vom Kriminal- und Actionfilm über Abenteuer und Western bis hin zum Giallo. Vor allem das Genre der Gialli, jene besondere italienische Spielform des Kriminalfilms bereicherte Martino in den 1970er Jahren mit einigen der schönsten wie auch artifiziellsten Beiträge. Ein Martino-Giallo bietet immer eine für den Kriminalfilm übliche Geschichte zwischen Mord, Verrat und intriganten Beziehungen, weiß aber jeweils durch eine exzellente Kameraarbeit, etwa durch Giancarlo Ferrando, solide bis überdurchschnittliche Darstellerleistungen sowie eine gelungene und dramaturgisch gelungen eingesetzte Filmmusik zu begeistern. Bisweilen ließe sich der Vorwurf erheben, Martino fasse den Giallo als kunstgewerbliches Handwerk auf, jedoch sind es gerade die Besonderheiten seiner visuellen Erzählweise, die im Verbund mit technischer Meisterschaft und inszenatorischer Routine ansprechende Kriminalfilme entstehen lassen, die weit aus der Masse thematisch vergleichbarer Produktionen herausragen. Zudem sind seine Werke oftmals mehr als die Summe der filmgestalterischen Einzelteile. Zu nennen ist hier der sublime IL TUO VIZIO È UNA STANZA CHIUSA E SOLO IO NE HO LA CHIAVE (1972), der auf Motiven Poes basierend das bedrückende Sittengemälde einer zerrütteten Beziehung entwirft. Erwähnenswert ist ebenso der berauschend-psychedelische TUTTI I COLORI DEL BUIO (DIE FARBEN DER NACHT, 1972), der sich mit verwischenden Grenzen von Alpträumen und Realitätswahrnehmung befasst. Nach LA CODA DELLO SCORPIONE (DER SCHWANZ DES SKORPIONS, 1971) veröffentlicht filmArt nun mit LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH (DER KILLER VON WIEN, 1971) einen zweiten Martino innerhalb der Giallo Edition. Zwar legte Koch Media diesen Film bereits vor einigen Jahren vor, doch ist diese Auflage bereits seit langem vergriffen.
Im Unterschied zu vielen Gialli, deren Handlung sich in Italien entspinnt, nimmt uns Martino auf eine Reise nach Wien mit. Es gelingt ihm dabei hervorragend, den so genannten Wiener Schmäh einzufangen. Die Bilder atmen zuweilen eine Schwermut und lebenssatte Dekadenz, die ihren Widerhall in den surrealen Traumsequenzen finden, mit denen Martino die innere Zerrissenheit seiner Hauptfigur begreifbar macht. Wien ist zudem der ideale Handlungsort für die Geschichte, die einem die ätzende Doppelbödigkeit der „feinen Gesellschaft“ vor Augen führt. Wenn auch der Film in wenigen Szenen etwas zu glatt wirkt und die Plotwendungen des Kriminalfalls mitunter etwas zu abrupt geschehen, entwickelt er über weite Strecken eine eigenwillige Atmosphäre der Dekadenz und, gerade in den Traumsequenzen, fiebrigen Rauschhaftigkeit. Wie so oft bei Martino ist also auch DER KILLER VON WIEN mehr als die Summe seiner Einzelteile…
___________________________________________________________
Lo Strano Vizio Della Signora Wardh, Italien / Spanien 1971, R: Sergio Martino, D: Edwige Fenech, George Hilton, Alberto de Mendoza, Conchita Airoldi, Manuel Gil, Ivan Rassimov u.a.
Anbieter: filmArt