Von Rudi Specht
DIE STIMME DES MONDES war 1990 der letzte Film des damals 70jährigen italienischen Filmemachers Federico Fellini, den man zweifelsohne zu den wichtigsten Autorenfilmern des 20. Jahrhunderts zählen darf. Dieser filmische Essay basiert auf Motiven aus dem von Ermanno Cavazzoni verfassten Roman „Gesang der Mondköpfe“ aus dem Jahre 1987 und findet seinen Schauplatz in einer kleinen, nicht weiter benannten Stadt im ländlichen Teil Italiens. Die Figur des von Roberto Benigni gewohnt souverän verkörperten Ivo Salvini führt den Zuschauer als einen roten Faden, wie er ihn auch in Form eines roten Schals um den Hals geschlungen trägt, durch die einzelnen Episoden der Erzählung, wenn man denn hier überhaupt von Episoden sprechen darf und der Begriff der Erzählung nicht ein wenig zu lapidar erscheint. Vielmehr handelt es sich hier um für uns scheinbar lose Versatzstücke, die manchmal Sinn ergeben mögen, manchmal aber auch nicht. Sie zeigen sich als Geschichten und Geschichtchen, teilweise nur als flüchtige Fetzen der Erinnerung, vielleicht verklärt durch die Nostalgie des alten und alternden Fellini.
Ivo Salvini selbst hört die Stimmen der Brunnen in der Stadt, die zu ihm sprechen, die er aber nicht imstande ist zu verstehen, sondern auch hier nur Wortfetzen herauslesen kann. Er trifft einen Musikgelehrten, der auf dem Friedhof lebt, einen alten Präfekten, der von alten Männern des Nachts an seinem Bett heimgesucht wird, einen Freund aus Jugendtagen auf einem Dach, der ihm von seiner Ehe berichtet, seine Schwester, seine Großmutter und schließlich zwei Handwerker, mit denen er dieselbe Schule besuchte und die zum Ende des filmischen Reigens den Mond vom Himmel auf die Erde holen.
Dies alles inszeniert Fellini mit der Ästhetik einer Poesie, die kaum anders als himmlisch beschrieben werden kann. Traumtänzerisch und unbefleckt unschuldig wandelt Benigni, bleich geschminkt und mit rotem Lippenstift, durch die Gesellschaft, die Fellini mit einer gewaltigen Portion sozialer und vor allem auch medialer Kritik porträtiert, weit entfernt von jedweder Altersmilde. Und unter all jenen, die diese Gesellschaft mit Habgier, Arroganz, Egoismus und Ignoranz befüllen, bemerken wir, dass es nicht Salvini ist, der der Verrückte sein könnte, sondern das nur er derjenige ist, der sich die Gabe bewahrt hat, die Welt mit den fantasievollen Augen eines Kindes zu betrachten, wie ein Mensch gewordener Pinocchio, der aber auch als Mensch niemals ganz zu „den Anderen“ gehören kann. Und insgeheim weiß, dass dies so unglaublich wertvoll ist.
Der Autor und Filmkritiker Georg Seeßlen führte in einem Text aus dem Erscheinungsjahr des Filmes an, dass sich Fellini sowohl in der Figur des Salvini, als auch in der des Präfekten als Verkörperungen des jüngeren und älteren Filmemachers darstellt. Ich gehe noch weiter und behaupte, dass in nahezu jeder Figur, die uns in diesem Film begegnet, ein Teil Fellinis steckt und sei es nur in der Form, dass er die Agierenden mit seinem Blick beschreibt, wir sie durch seine Augen erleben. Denn ich lese diesen Essay wie einen Abriss seines Lebens, wie Erinnerungen, die sich in der Gegenwart des Alters wieder manifestieren, teils verklärt, teils verdreht, teils nur bruchstückhaft und ewige Zeiten im Inneren verborgen.
So erleben wir, wie Fellini zum Donauwalzer von Johann Strauss tanzt und damit Michael Jacksons „The Way You Make Me Feel“ zum Verstummen bringt. Wir erleben, wie er sich unter das Bett der Großmutter legt, um das Feuer in der Stube zu bewundern, wie er eine Frau begehrt, die ihn abweist, wie er seinem Vater nachtrauert und seiner Schwester begegnet, wie er lacht, wie er staunt, wie er einfach ist. Wir sehen uns dies alles nicht nur an, wir erleben sein Leben für eine Zeit von zwei Stunden mit. Im Film fragt sich Salvini: „Wie lange ist es her, das wir uns auf den Weg gemacht haben? Es kommt mir vor, als ob diese Nacht mein ganzes Leben wäre.“
Und wenn der Film endet, dann ist es so, als würde uns ein alter Freund verlassen, der zu Besuch kam, mit dem wir in Erinnerungen geschwelgt und über vergangene Zeiten gelacht haben. Und vielleicht kehrt dieser Freund nie wieder zurück. Aber wir werden nach diesem Besuch reicher sein, werden uns verändert haben. Wir werden uns der Zeit bewusst, die unaufhörlich vergeht und in die wir nur von außen rückblickend einsehen können, unbeteiligt und still beobachtend.
Und so bleibt nur die Erinnerung. Fellinis Erinnerung, die uns unsere eigenen Erinnerungen wieder vor Augen führt und uns tief bewegt, uns anrührt, berührt und nachdenklich macht.
Als der Abspann beginnt, möchte man aufstehen und applaudieren.
Danke, Koch Media, für diese fantastische Blu-Ray.
Danke, Maestro Fellini, für Deinen viel zu kurzen Besuch.
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La voce de la luna, Italien 1990, R: Federico Fellini, D: Roberto Benigni, Paolo Villaggio, Nadia Ottaviani, Angelo Orlando, Marisa Tomasi u.a.
Anbieter: Koch Media