Hypothetisch, klaustrophobisch, nekromanisch, gut. Von Rudi Specht

Von Rudi Specht

Der Spanier Hèctor Hernández Vicens ist einer dieser sehr seltsamen und seltenen Fälle, wie er in der spanischen Film- und Fernsehlandschaft, ja vielleicht sogar europaweit, eher nicht vorkommt und kurioser kaum sein kann. Denn eigentlich ist Vicens bisher vor allem als Drehbuchautor für das spanische Fernsehen verantwortlich gewesen und hat hier über Jahre die Bücher für die spanische Kinderfernsehsendung LOS LUNNIS geschrieben, einem Äquivalent der SESAMSTRASSE mit quietschbunten, niedlichen Puppen, heiteren Geschichten und fröhlicher Musik. Umso mehr ängstigt mich die alleinige Existenz seines Spielfilmdebüts als Regisseur DIE LEICHE DER ANNA FRITZ. Ist das die Auswirkung jahrelanger Arbeit an harmloser Kinderbespaßung für spanische Fernsehanstalten? Oder trug er diese Fantasien tief verborgen in seinem Innersten schon seit ewigen Zeiten mit sich herum, immer auf der Suche nach einer Gelegenheit, sie filmisch umzusetzen…?

Anna_Cover Der etwas schüchterne junge Mann Pau arbeitet in der Leichenhalle eines spanischen Krankenhauses, in welche der sehr plötzlich verstorbene größte weibliche Filmstar Spaniens, Anna Fritz, eingeliefert wird. Pau, fasziniert davon, diese sonst unerreichbare Schönheit vor sich zu haben, informiert seine Freunde Ivan, ein draufgängerischer Frauenheld, und Javi. Angeregt durch die intranasale Aufnahme einer bewusstseinsverändernden pulverförmigen Substanz in Erwartung eines unterhaltsamen Abends nach der Leichenschau, tauchen Ivan und Javi in der Leichenhalle auf, um sich Anna Fritz anzusehen. Ivan wird von ihrem leb- und dennoch makellosen Körper so in Wallung versetzt, dass er sich daran vergeht. Auch der schüchterne Pau vollzieht nach Ivan den Akt der Kopulation mit dem unterkühlten Filmstar, doch schlägt Anna plötzlich die Augen auf. Da auch in Spanien Geschlechtsverkehr mit Toten mit Haftstrafe geahndet wird und vor allem Ivan überdies befürchtet, dass sich Anna an alles erinnern könnte, zumal die drei Jungen das Vorangegangene vor der Schauspielerin diskutieren und dies einen ungeheuren Skandal in der Öffentlichkeit nach sich ziehen würde, beschließt er, Anna in den Zustand zu versetzen, in dem die Welt außerhalb der Leichenhalle sie ohnehin wähnt. Javi stellt sich entschlossen gegen die Absicht, Pau ist unentschlossen, Anna wach, aber nicht fähig, weg zu laufen oder um Hilfe zu rufen.

Anna004 An dieser Stelle wollen wir die Handlungsbeschreibung abschließen. Es sei gesagt, das sich hier eine albtraumhaft-klaustrophobische Handlung entspinnt, wie sie der Zuschauer selten auf der Leinwand oder dem Bildschirm erlebt haben wird. Hèctor Hernández Vicens konfrontiert uns hier permanent mit unseren ureigenen und sicherlich sehr individuellen, weil intimen Moralvorstellungen mit unserem Umgang mit unseren heimlichen Leidenschaften und den Grenzen unserer eigenen Toleranz und Akzeptanz..

Könnten wir tatsächlich der Versuchung widerstehen, wenn wir an Paus Stelle wären, die von uns verehrte, vielleicht begehrte Leinwandgöttin, den Auslöser unserer flimmernden Männerfantasien und Hauptdarstellerin unserer fiebrigen Träume, nicht zumindest zu berühren, vielleicht die Lippen zu küssen, die wir aus übermenschlich großen Aufnahmen kennen, die wir im Dunkel der Kinosäle so oft bewundert haben? Haben wir nicht auch verborgene, vielleicht als „dunkel“ zu bezeichnende Wünsche und Begierden, denen wir aus Angst vor Strafe oder zumindest Ablehnung nicht nachgehen? Oder sind wir ihnen schon nachgegangen und haben beschlossen, dass es besser wäre, nie jemandem davon zu berichten? Und wenn unser Geheimnis nun Gefahr läuft, gelüftet zu werden? Wie weit würden wir gehen, wenn die persönlichen Konsequenzen unüberschaubar groß wären, unser Leben dadurch vielleicht für immer zerstört würde? Fragen, mit denen sich der Zuschauer in DIE LEICHE DER ANNA FRITZ auf sehr unangenehme Weise konfrontiert sieht.

Anna001 Vicens, der natürlich auch anm Drehbuch mitgewirkt hat, gelingt hier überdies noch weit mehr. In einer filmischen Selbstreflexion des Mediums präsentiert er uns, unterstützt durch eine hervorragende Schauspielerriege, auf subtile Art und Weise filmtheoretische Grundüberlegungen in Bezug auf den weiblichen Körper im Film. So war es die britische feministische Filmtheoretikerin Laura Mulvey, die in ihrem 1975 erschienenen Essay „Visuelle Lust und narratives Kino“ erstmalig einen fetischisierenden, rein männlichen Filmblick anprangerte, der, grob zusammengefasst, den weiblichen Körper auf ein reines Objekt zur Befriedigung eines männlichen Voyeurismus reduziert, seine visuelle Lust bedient. Und Anna Fritz, die eben als Schauspielerin im Kino diesem männlichen Kamerablick als Objekt ausgesetzt war, ist es nun auch in der Realität. Wie das reale Abbild eines filmischen Abbilds dient sie hier lediglich, auf ein Objekt reduziert, der Befriedigung männlicher Lust.

Konsequent ist die Ermangelung einer Erklärung, warum Anna Fritz während des Geschlechtsaktes plötzlich die Augen öffnet, da sie doch von anderer Stelle bereits für tot erklärt wurde. Und diese Erklärung hätte den Film nur unglaubwürdig erscheinen lassen. Nehmen wir es als eine hypothetische Annahme, vielleicht als ein Gleichnis, das den Zuschauer zwingt, sich mit sich selbst, seinem filmischen und außerfilmischen Blick und seinem damit einhergehenden moralischen Kodex über viel zu kurze 74 Minuten auseinanderzusetzen.

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Die Leiche der Anna Fritz, Spanien 2015, R: Hèctor Hernández Vicens, D: Alba Ribas, Cristian Valencia, Albert Carbó, Bernat Saumell, Belén Fabra

Anbieter: Capelight Pictures