In den sechziger Jahren gelangte der Spionagefilm zu neuer Blüte. Die schöne neue Konsumwelt und die Freiheiten der beginnenden sechziger Jahre machten aus einem Agenten einen Übermenschen, einen Super-Konsumenten auf allen Ebenen. Das ist das Geheimnis des James Bond-Charakters. Er trägt immer die eleganteste Kleidung, geht in teuren Restaurants ein und aus, bestellt das richtige, benutzt die allermodernsten Gadgets (wie Autos, die es erst als Prototypen gibt) und nutzt die neuen sexuellen Freiheiten, um möglichst viele Frauen zu konsumieren (üblicherweise drei pro Film).
Produzent des Anti-Bond-Filmvergnügens THE IPCRESS FILE (1965) war niemand geringerer als Bond-Produzent Harry Saltzman, der bewusst eine Gegenfigur zu „seinem“ und Ian Flemings James Bond schaffen wollte. Dass diese Gegenfigur seinen eigenen Vornamen trug, ist angeblich auf Michael Caine zurück zu führen, der im Brainstorm mit Saltzman dem namenlosen Spion des gleichnamigen Romans von Len Deighton „Harry“ als öden, langweiligen Namen vorschlug.
Mit zunehmendem Eindringen in die Spionagewelt ändert sich unsere Realität. Jedes Objekt scheint in eine zweite Ebene überzugehen. Grantby hat den Übernamen Bluejay (ein Singvogel), sein Faktotum heisst Housemartin. Die geheimen Orte, in denen sich Palmer nun mit seinen Co-Spionen trifft, heissen „Vermittlungsbüro für häusliche Anfragen“ oder „Astra Feuerwerks AG“. Palmer stellt Grantby in einer Bibliothek, in der die Stille zum Schneiden ist, und unterbreitet ihm laut sprechend ein Verhandlungsangebot. Szenen wie diese schaffen eine Atmosphäre der Verfremdung, des Fremdseins, weil die Erwartung an eine Situation seltsam gekehrt wird.
Das normale Weltbild gerät aus den Fugen. Palmer bestellt ein Polizeiaufgebot, um ein altes Fabrikgebäude zu stürmen, findet aber lediglich einen Tonbandschnipsel mit der Aufschrift „Ipcress“ und einem Stück elektronischer Musik (à la Stockhausen in den 50ern), stellt seine Mitarbeiterin Jean Courtney (Sue Lloyd) beim Durchsuchen seiner Wohnung („Dann wissen sie ja, wo der Whisky ist“ – aber anders als bei Bond bleibt sie nicht über Nacht) und versucht – in einem Park mit Blasmusik – Radcliff von Grantby zurück zu kaufen.
Wie die Welt, so gerät auch die Kamera in Schieflage und kippt in ca. 30° schräge Einstellungen, wie in Carol Reeds DER DRITTE MANN (1949). Die Untersichten auf Palmers Gesicht mit den beengenden Zimmerdecken der jeweiligen Wohnung erzeugen die klaustrophobischen Effekte, die den Film ebenso prägen wie die Menschen im Bildvordergrund, deren Schultern oft 2/3 des Bildes verdecken. Überhaupt wird in THE IPCRESS FILE das Framing zum Schlüssel der Filmsprache. In beinahe jeder dritten oder vierten Einstellung werden die handelnden Menschen im Bild „gerahmt“: entweder von Türen, Fensterrahmen, dem Durchblick durch eine Telefonkabine, einem Parkometer, den erwähnten Schultern, einem Lampenschirm usw.. In diesen Framings manifestiert sich der beschränkte Wahrnehmungsspielraum der Protagonisten. Ihr Sichtfeld ist eingeschränkt. Sie können immer nur einen Teil der Wahrheit erkennen, die sie (als Spione) so sehr suchen, bzw. finden müssen.
Die Skepsis an der politischen Integrität der eigenen Institutionen nahm zu in den mittleren sechziger Jahren – und in den Folgefilmen FUNERAL IN BERLIN (1966) und BILLION DOLLAR BRAIN (1967) würde dies zu ganz neuen Einsichten der großpolitischen Lage führen.
Erschienen ist IPCRESS – STRENG GEHEIM unlängst in einer sehr schönen Mediabook-Edition bei Koch Media. Diese bietet nicht nur den Film in einer bis dahin nie gesehenen Bild- und Tonqualität, sondern besticht auch durch eine Menge an informativen Zusatzinhalten. Obligatorisch sind hier Trailer wie auch Radiospots und zeitgenössisches Werbematerial zu finden. Filmhistorisch interessant ist der Audiokommentar von Regisseur Sidney J. Furie und seinem Cutter Peter Hunt. Dieser gibt einen guten Einblick in die filmische Produktionspraxis der Celluloid-Jahrzehnte. Dem Set liegen sowohl eine Bonus-Blu-ray und eine Bonus-DVD bei. Auf der Blu-ray findet sich die herrliche Dokumentation MY GENERATION von David Batty. Caine höchstpersönlich nimmt uns hier auf einen spielfilmlangen Streifzug durch die Swinging Sixties und das verrückte Treiben in der Weltmetropole London mit. Caine, der u.a. durch Rollen in solch stilbildenden Gangsterfilmen wie GET CARTER ein Teil der britischen Populärkultur wurde, ist ein ebenso charmanter wie altersweiser „Gastgeber“. Zu Wort kommen unter anderen auch Zeitgenossen wie die Rolling Stones, das Model Twiggy und zahlreiche andere Akteure. Auf der Bonus-DVD findet sich die zeitgenössische Dokumentation CANDID CAINE – A SELF PORTRAIT OF MICHAEL CAINE, die 1969 für das britische Fernsehen entstand. In zahlreichen Gesprächen wird ein Bild des Schauspielers Caine entworfen, der zu diesem Zeitpunkt gerade auf dem Weg zu Weltruhm war. Ein weiteres Interview mit Caine, ein Interview mit dem legendären Production-Designer Ken Adam und ein Trailer-Kommentar von Prof. Howard A. Radman runden die Scheibe ab. Die neue Blu-ray-DVD-Edition kann rundum empfohlen werden.
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The Ipcress File, UK 1965 | Regie: Sidney J. Furie | Drehbuch: Bill Canaway, James Doran | Musik: John Barry | Kamera: Otto Heller | Darsteller: Michael Caine, Guy Doleman, Nigel Green, Sue Lloyd, Frank Gatliff u.a. | Laufzeit: 107 min.
Anbieter: Koch Media