Der unbescholtene Architekt Vanzi (Franco Nero) gerät durch eine Falschaussage in die Mühlen der Justiz und sitzt plötzlich in Untersuchungshaft. Was ihm hinter den Gefängnismauern begegnet, ist ein von Korruption und Brutalität geprägter Alltag zwischen lebenslänglich einsitzenden Mördern und sadistischen Zellenwärtern. Er findet falsche Freunde, wird ausgenutzt und muss mit ansehen, wie ihm selbst die Fassade des Ehrenmannes zu entgleiten droht. Als sich herausstellt, dass er mit all seinem Geld nichts mehr anfangen kann, beginnt für ihn eine tragische Odyssee, an deren Ende er dem schlimmsten aller Insassen gegenübersteht: sich selbst.
Die Verzahnung von organisiertem Verbrechen und korruptem Justizsystem aufzuzeigen, war stets das Anliegen Damiano Damianis. Basierend auf dem stark umgearbeiteten Roman “Tante sbarre” von Leros Pittoni, drehte er in einem stillgelegten Jugendgefängnis der römischen Hauptstadt und wiederholt mit Franco Nero, der bereits beim direkten Vorgänger DER CLAN, der seine Feinde lebendig einmauert (1971) und DER TAG DER EULE (1968) dabei war. Ähnlich wie José Giovanni mit ENDSTATION SCHAFOTT (1973) für Frankreich, war Damiano, der politisch – was wohl kaum überraschen dürfte – mit dem sozialistischen Lager sympathisierte, erbost über ‚sein‘ italienisches Bürgertum und dessen Gleichgültigkeit wenn es darum ging, wirklich etwas verändern zu wollen. Sich stattdessen in der Lakonie einzurichten war seine Sache nicht – die Dinge, Filme, die er machte, liebte er, engagierte sich für sie, wollte etwas von Bedeutung erschaffen.
Bei DAS VERFAHREN IST EINGESTELLT: VERGESSEN SIE’S! dachte er die Entwicklung eines situierten, stromlinienförmigen Kleinbürgers konsequent zu Ende – sukzessive schälte sich dort die böse, opportunistische, selbstsüchtige Natur heraus, die nur an das eigene Fortkommen denkt. Dass dies schließlich in einer Gegenüberstellung zwischen vermeintlichem Opfer (Vanzi) und vermeintlichem Peiniger (Aufseher) mündet, in der sich die bis dahin so sicher geglaubte Rollenverteilung völlig auflöst, gehört zu den großen Stunden des Regisseurs und ist nur ein filmischer Hieb in die Magengrube, die der Film bereithält. Dass Damiano mitunter dick auftrug und die illegitime Polizeigewalt der anrückenden Übermacht von Gefängniswärtern durch den Marsch der Toreros aus Georges Bizets “Carmen” übertönt wurde, zeigte seinen sarkastischen und mitunter fatalistischen Blick auf die Welt.
Für die Musik ersann Maestro Ennio Morricone ein eigenwilliges, tonal recht sperriges Klangkonzept, wobei er sich der elektronischen Sounderfindungen Walter Branchis versicherte, eines langjährigen Mitstreiters in der Erforschung neuer Musizierformen – Morricone gehörte als Trompeter zusammen mit Kontrabassist Branchi zur 1964 gegründeten Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza. Zwar unterblieb damals trotz des Starstatus‘ Morricones eine Veröffentlichung – für die Plattenfirmen schienen die Soundcluster absolut unverkäuflich – aber dank eines CD-Release 2004 bei Dagored sowie einer auf Contempo Records erschienenen LP ist dieser Malus mittlerweile behoben. Wem übrigens die poppige Schlussnummer des Streifens bekannt vorkommt: hierfür streute Morricone den Track „Belinda May (Versione 4)“ aus seinem Score zu L’ALIBI (1969) ein, der dankenswerterweise auf CD vorliegt.
Ein bemerkenswertes Kleinod stellt hier die Synchronisation dar, die in München für die BRD aufgenommen wurde. ‚Humphrey Bogart‘ Joachim Kemmer, der mit „Ich schau‘ Dir in die Augen, Kleines“ eines der berühmtesten Filmzitate sprechen durfte, verleiht Franco Nero sein sonores Organ, während für den französischen Charakterdarsteller Georges Wilson – den es später gar in Lucio Fulcis NON SI SEVIZIA UN PAPERINO (1972) verschlug – kein geringerer als ‚Anthony Quinn‘ Gerhard Geisler ans Mikro trat. Selten besetzte und somit rare Gäste blieben der hessische Volksschauspieler Günter Strack, der den in Italien als Synchronsprecherstar gehandelten Riccardo Cucciolla – zuvor mit SACCO & VANZETTI (1970) erfolgreich und auch im ähnlich systemkritischen Betrachten wir die Angelegenheit als abgeschlossen (1973) dabei – mit gepeinigter Angst ausstattet, während der schwergewichtige Benno Sterzenbach auf den die Theaterbühne nur selten verlassenen Turi Ferro besetzt wurde, was dem niederen Charakter des Gefängnisaufsehers merkbar Kraft verleiht. In Nebenrollen sind außerdem Sprechergranden wie Otto Stern, Hartmut Reck, Peter Thom oder Rainer Basedow und runden damit die stilistisch treffsichere deutsche Fassung ab. Für die DDR, wohin es viele linkslastige und somit politisch für den Sozialismus zu vereinnahmende Filme italienischer Produktion schafften, wurde bei der DEFA eine separate Sprachfassung aufgenommen, die mittlerweile leider wohl unzugänglich ist.
Damals hatte der Film in Italien das Pech zeitgleich mit Nanni Loys UNTERSUCHUNGSHAFT (1971) in die Kinos zu kommen. Nicht nur, dass beide eine ähnliche Grundgeschichte vermittelten, so hatte UNTERSUCHUNGSHAFT auch noch den vor allem durch Komödien zum Superstar aufgestiegenen Alberto Sordi in der Hauptrolle parat. Sordi, der für seine Interpretation eines in die Fänge der Justiz geratenen Bauunternehmers 1972 einen Silbernen Bären als bester Darsteller erhielt, ließ Das Verfahren ist eingestellt: Vergessen Sie’s! weniger erfolgreich an der Kinokasse sein, obgleich dieser in Dramatik und Realitätsnähe Loys durch einen tragikomischen Akzent leichter verdauliches Werk locker übertrumpfte.
Von solchen Unwägbarkeiten wissen wir nichts in unserer heutigen Zeit ständiger Verfügbarkeit von Filmen wie diesem hier – und mag sich auch der Strafvollzug in Italien in Nuancen verbessert haben, der Mensch per se ist im Inneren noch immer der feige Kleinbürger, wie in uns Damiani in den unterschiedlichsten Ausformungen vorgeführt hat. Wenn ein Film über seine Entstehungszeit genauso viel erzählt wie über das hier und jetzt, dann sehen wir die hohe Kunst des Genrekinos vor uns. DAS VERFAHREN IST EINGESTELLT: VERGESSEN SIE’S! hat dem Zahn der Zeit bemerkenswert getrotzt und schickt sich stattdessen an, auch dem heutigen Zuschauer auf eben diesen Zahn zu fühlen – und dieses Verfahren ist noch längt nicht eingestellt.
DAS VERFAHREN IST EINGESTELLT: VERGESSEN SIE’S! ist mit erstklassig remastertem Transfer auf DVD und Blu-ray erschienen, wobei neben der deutschen Synchronisation der italienische ‚Originalton‘ enthalten ist. Erhellenden Bonus stellt die Featurette “Viele Gitterstäbe” dar, in der Regieassistent Enrique Bergier, Schnittmeister Antonio Siciliano und Darsteller Corrado Solari sich an die Hintergründe der Produktion erinnern. Der italienische Kinotrailer und eine Bildergalerie mit abwechslungsreichen Plakatmotiven aus verschiedensten Ländern sowie den stilistisch einzigartigen, italienischen Photobusta (Aushangfotos) runden diese wichtige Veröffentlichung ab.
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L’istruttoria è chiusa: dimentichi | Italien 1971 | Regie: Damiano Damiani | Darsteller: Franco Nero, Riccardo Cucciolla, Georges Wilson, John Steiner, Ferruccio De Ceresa, Antonio Casale u.a.
Anbieter: Koch Media