Gott schweigt und geniesst.

Die evangelikale Kirche ist eine vor allem in den USA verbreitete, besonders reaktionäre Ausprägung des Protestantismus – eine Reaktion auf tolerante Bibelauslegungen, wie wir sie kennen. In den USA ist der Einfluss der Evangelikalen auf die Politik in den letzten Jahrzehnten stetig gestiegen. Billy Graham (das „Maschinengewehr Gottes“) war bereits spiritueller Vater von Präsident Nixon (der jedoch bei Grahams Vorschlag zurückschreckte, den Vietnamkrieg mit einem Bombardement zu entscheiden, das mindestens eine Million Vietnamesen getötet hätte). Prediger Jerry Falwell gründete 1979 die „Moral Majority“ und verhalf Reagan zum Wahlsieg, worauf jener ihm zwar nicht den Wunsch eines Abtreibungsverbots erfüllte, aber wenigstens evangelikale Schulen steuerfrei machte, obwohl da Schwarzen der Eintritt verweigert wird. Bush Jr. wurde von Evangelikalen von der Alkoholsucht befreit und inzwischen ist der Evangelikale Mike Pence Vizepräsident, Prediger Pat Robertson verbreitet die rückschrittliche Botschaft auf TV-Sendern in über 180 Staaten und Tim LaHaye’s Roman „Left behind“ hat sich 80 Millionen Mal verkauft und gibt die seltsame 1:1-Endzeit-Interpretation der „Offenbarung Johannes“ als Groschenroman-Epos wieder – die sogenannte Dispensationslehre, die seit dem 19. Jahrhundert im Zentrum evangelikalen Denkens steht.

Diese starken Kräfte in den Vereinigten Staaten drängen längst danach, auch in Südamerika eine rückschrittliche Wende herbeizuführen – was mit der Wahl Jair Bolsonaros denn auch prächtig klappte. Die Partido Social Liberal wurde unter seiner Ägide zur rechtsextremen Partei mit evangelikalem Überbau. Familienministerin Damara Alves ist bekennende Evangelikale, überzeugt davon, dass (ihre) Religion in die Politik gehört und erfreut so manches rückschrittliches Herz mit Sentenzen wie: „Frauen sind dazu da, Mütter zu sein.“ Was jetzt als Realität in Brasilien anbricht, hat der für seine Dokumentationen mehrfach ausgezeichnete Regisseur Gabriel Mascaro weitergesponnen zur Dystopie eines totalen evangelikalen Gottesstaates.

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Als hätte Jair Messias Bolsonaro (ja, Messias ist sein Middle Name!) bis ins Jahr 2027 weiterregiert, befinden wir uns in Mascaros zweitem Spielfilm DIVINO AMOR in einem Brasilien der Armut und kleinen Jobs, aber auch der selig machenden Welt der Neonkirchen und heilen religiösen Welten. Musikalische Großkonzerte im Namen Jesu, Drive-Through-Beichtstationen und Hauseingänge, die mit aufleuchtenden DNA-Soforttest-Ampeln sofort über den Schwangerschaftsstatus von Frauen Auskunft geben, sind nur einige der Spielarten eines Überwachungs-Evangelikalismus, die sich Mascaro im Brasilien der Zukunft vorstellen kann.

Im Zentrum der Geschichte steht die etwas naive, liebenswerte Joana (Dira Paes), die in ihrem Beratungsjob von allen gemocht wird, tief gottesgläubig ist und mit dem Floristen Danilo (Julio Machado) auch einen netten Mann an der Seite hat. Trotzdem zeigt uns der Film ihr großes, ständiges Leid. Sie wird einfach nicht schwanger, dabei gehört zur Erfüllung ihres religiösen Glücks ein Kind zur Grundvoraussetzung.

Das treibt die Story voran. Joana und Danilo besuchen zum Beispiel die „Kirche der göttlichen Liebe“ für Paare, in der neben Gruppentherapie und religiösen Beschwörungen auch Gruppensex im Neonlicht praktiziert wird – allerdings wird der Partnertausch in dem Moment zurück getauscht, in dem göttliche Samen aus dem Mann austreten. Liegt‘s an Danilo? An Joana? Oder gar an einem gemeinen göttlichen Plan? Nichts geschieht jedenfalls, trotz genügend Sex, viel Beten, Bitten und Beichten in der Drive-Through-Kirche (mit tollen Special-FX-Möglichkeiten für Priester) und einem schrecklichen Gerät, das Danilos Fruchtbarkeit herbeizaubern soll.

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Auch wenn hier die religiöse Welt in Kombination mit der Überwachungsgesellschaft teilweise amüsant, teilweise beängstigend in die Zukunft gedacht wurde, versucht Mascaro den Film wie aus einer wertfreien, unemotionalen Perspektive zu erzählen. Eine kleine Alltagsgeschichte eben, aus der wir unsere eigenen Schlüsse ziehen können. Mascaro lenkt uns (gesellschaftspolitisch) nicht durch seinen quasi-dokumentarischen Filmstil, sondern durch die Annahmen, wie die Zukunft aussieht – und was für Problemstellungen und Widersprüchlichkeiten sich dabei für die Menschen ergeben. Für liebenswerte, fleißige Menschen wie Joana. Sie leidet unter Gottes Schweigen zum Ausbleiben ihrer Schwangerschaft, was selbst der Priester nicht versteht: Das führt zu unterschiedlichen und immer neuen Auslegungen von Gottes Wille, und wäre da nicht dieser Schluss, der sowohl Gottes Plan wie auch die seltsame, subjektive Off-Stimme in einem verblüffenden neuen Licht erscheinen lässt, dann bliebe der Film am Ende doch etwas banal.

Wenngleich manchmal etwas zu voraussehbar und lo-fi, ist DIVINO AMOR durchaus sehenswert und hat inspirierende Momente. Wie Gabriel Mascaro und seine drei weiteren Drehbuchschreiber den heute rigiden Evangelikalismus aus den USA in eine tropische Spielart überführen, die katholisches Leid und Erotik gleichermaßen Raum lässt, wirkt jedenfalls glaubwürdig und ist ein weiterer brasilianischer Film in diesem Jahr neben z.B. BACURAU, der das Land in einer nahen Zukunft mit grosser Sorge und Skepsis betrachtet. „Brazil has changed“ heißt es eingangs des Films.

Divino Amor
Brasilien 2019
Regie: Gabriel Mascaro
Darsteller: Dira Paes, Julio Machado, Teca Pereira
Laufzeit: 101 min.