Mit BLUTIGE SEIDE (SEI DONNE PER L’ASSASINO) hat Mario Bava 1964 nicht nur das Genre des Giallo begründet, sondern auch den Grundstein zu einer engen Beziehung zwischen Mode und Mord gelegt. In BLUTIGE SEIDE werden die Gründe noch nicht so offen dargelegt wie in neueren Thrillern wie DIE AUGEN DER LAURA MARS (1978, Irving Kershner) oder THE NEON DEMON (2016, Nicolas Winding Refn), aber die Faszination an der oberflächlichen Modebranche, den schönen Frauen und einem schwer kanalisierbaren Überschuss an Triebhaftigkeit dringt durch viele der hoch ästhetisierten Einstellungen des Films. Eros und Thanatos gehen in BLUTIGE SEIDE sofort eine ästhetische Symbiose ein.
Schon in der Titelsequenz des Films werden die Hauptdarsteller starr und leblos wie Schaufensterpuppen gefilmt, Leben und Tod schon nahe beieinander. Den Gesetzen des Kriminalgenres folgt der erste Mord sehr schnell zum Filmbeginn, nachdem lediglich kurz auf einen Konflikt aufmerksam gemacht wurde. Model Isabella muss nachts allein durch den riesigen Garten des Palazzos gehen, der das Haute-Couture-Modehaus „Christian“ beherbergt. Sie trägt einen Mantel in der Signalfarbe Rot und gelangt über fürstliche Treppen und Wege schließlich in einen Teil, in dem die geometrische Ordnung und menschengemachte Naturschönheit des Parks zugunsten einer dunklen, naturdominierten Wildheit Platz macht. Plötzlich wähnt man sie in einem dunklen Wald, und hier passiert der Mord: Isabella wird von einem „gesichtslosen“ Mann erwürgt – d.h. der Mann trägt einen Hut und hat sich übers Gesicht einen Strumpf gezogen. Der Mörder gemahnt damit nicht nur an die Schaufensterpuppen der Titelsequenz, sondern auch an die gesichtslosen Bürger René Magrittes. Dieser gesichtslose Bürger voller Mordlust ist durchaus auch der Filmzuschauer (männlich). Unsere cineastische Mordlust also. Als er die tote Isabella wegzieht, ist ihr Rock so hochgerutscht, dass man ihre Strümpfe sieht – der sexuelle Fetisch ist also von Anfang an Teil der Mord-Mode-Ästhetik.
Nach der brutalen, schockierenden Mordszene (aber keineswegs der brutalsten) schiebt Bava rasch noch eine Schockszene nach. Im Palazzo sucht Modekreateurin Comtessa Christiana (Eva Bartok) ihren Geschäftsführer in einem Zimmer und erschrickt, als sie statt dessen Isabellas Leiche entdeckt: Isabellas schönes, aber entstelltes Gesicht, natürlich mit leblosen, weit geöffneten Augen. Das ist das Bild einer (weiblichen) Toten, das den Giallo in den nächsten Jahrzehnten bevölkern wird. Ein Totenporträt, das zur Ikonografie wird.
In die atemberaubend beleuchteten und inszenierten Innenräume des Palazzos, teilweise in strengem Farbcode Weiss, Hellblau und (umso stärker wirkendem) Rot gehalten, vollgestellt mit Torso-Gittergestellen und Schaufensterpuppen für die Schneiderinnen und Models, bringt Bava noch einen Schuss Surrealismus in die Szenerien: Manche Schaufensterpuppen sind aus leuchtend rotem Porzellan statt weissem gefertigt. Während Bava mit den blutroten Schaufensterpuppen das Mörderische noch in eine „unschuldige“ Modewelt quasi etwas surreal hinein inszeniert, ist die Modebranche in EYES OF LAURA MARS und THE NEON DEMON bereits „schuldig“. In Irving Kershners Film aus den späten Siebzigern – basierend übrigens auf dem ersten erfolgreichen Script von John Carpenter – dreht sich eine gesellschaftliche Debatte um Laura Mars’ (Faye Dunaway) Modefotografien, deren Aufnahmen Gewalt und Tod glorifizieren und in denen sie sterbende und tote Frauen in drastischen Bildkompositionen inszeniert. Der Film nimmt die Diskussionen um Guy Bourdins und Helmut Newtons Fotografien zum Thema. Die Modefotografie hatte sich in den siebziger Jahren mit Schuld beladen, zur selben Zeit, in der sich die aufkommende feministische Bewegung an Gewaltpornografie und Snuff-Filmen abarbeiten musste.
Zur Zeit von Nicolas Winding Refns Film scheint das alles vorbei zu sein. Sein Film geht von ganz anderen gesellschaftlichen Gegebenheiten aus. In der Eingangsszene von THE NEON DEMON lässt sich nicht unterscheiden, ob es sich bei der blutüberströmten Toten auf dem Sofa um eine Puppe oder eine Frau handelt, um eine Tote oder ein lebendes Model. Winding Refn choreografiert seinen Modemord-Thriller in noch künstlicheren Szenerien als Bava, vor unseren Augen entspinnt sich ein visueller Wahnsinn aus neonartigen Konträrfarben – der gesamte Film entpuppt sich als ein einziger greller, psychoanalytischer Wahntraum. Ab einem gewissen Punkt dürfte dem Zuschauer nicht mehr klar sein, ob er die „Realität“ oder die Visionen der Protagonistin Jessy (Elle Fanning) vor sich hat. Die Modebranche als neurotische Störung junger Frauen: Tatsächlich zeigt der Film ein beinahe hermetisch abgeschlossenes System, eine ganz eigene Realität, die sich von der Gesellschaft abgekoppelt hat. Eine durch und durch weibliche Modewelt, wie wir sie in „Germany‘s Next Topmodel“ kennen gelernt haben, die ein inferiores Selbstbildnis von beteiligten Frauen offenbart („Ich kann eigentlich nichts, aber hübsch bin ich.“ / „Stehst du auf Essen oder auf Sex?“).
Die frauendominierte Enklave in Bavas BLUTIGE SEIDE wird hier zu einer männerlosen Welt – das starke Geschlecht kommt nur am Rand vor, bleibt aber im Vollbesitz der Macht. Die seltenen Männer dominieren die jungen Frauen psychisch (als Entscheider über Modeljobs) oder physisch-sexuell (einem erzwungenen Blow-Job gleich steckt der Hotelbesitzer Jessy ein Messer in den Mund).
Nichts zeigt die fortschreitende Abkoppelung der Modewelt von der Realität mehr als die Mörder und ihre Motive. Während in Bavas Film der männliche Mörder Max (Cameron Mitchell) aus monetären Gründen mordet (und die liebende Cristina dazu anstiftet), zeigt sich in Kershners Film bereits ein psychodynamischer Grund. Polizist Neville (Tommy Lee Jones) leidet an einer Schizophrenie – im Film kaum plausibel sichtbar -, deren zweite Natur ihn die todessehnsüchtige Sexualisierung in der Modefotografie derart verachten lässt, dass er Lauras Assistenten ermordet.
Die Probleme des Mannes mit Frauen, Begehren und der sexualisierten Bilderproduktion der Mode haben sich derart gesteigert in den letzten Jahrzehnten, dass sich der Mann in NEON DEMON offenbar abkoppeln muss. Männer und Mode, das ist nur noch ein Machtthema. Die Morde finden nur unter Frauen statt. Make-up-Artistin Ruby stiftet Gigi und Sarah dazu an, Jessy zu ermorden. Neid und unerfüllte Beziehungswünsche als „typisch weibliche“ Gründe sollen aufzeigen, wie sehr sich in der Modewelt eine negative aufgeladene Frauenwelt zugespitzt hat. Allerdings auf der Basis einer patriarchalen Machtstruktur, in welche die Männer zum Machterhalt nur noch punktuell eingreifen müssen.
Bavas Film macht demgegenüber noch keine direkte „psychologische“ Aussage. Der Plot gibt zuerst vor, ein klassischer Krimi zu sein, ein ‚Whodunit‘ wie etwa die Edgar-Wallace-Filme der Zeit, führt aber gerade durch seine drastischen und hoch ästhetischen Mordsequenzen an gut aussehenden Frauen, sowie die Überbetonung und das Leuchten der Farbe Rot die (männlichen?) Zuschauer in eine psychologisierende Stimmung. Hier wird heftig angeheizt, was in DIE AUGEN DER LAURA MARS zur Überhitzung des männlichen Lustempfindens führt und in NEON DEMON in seiner artifiziellen Kühle und Männerabstinenz verdaubar wird. Dass die Auflösung des verbrecherischen Plots durch den Inspektor am Ende des Films praktisch bedeutungslos ist, als hätte Bava daran kein Interesse gehabt, symbolisiert geradezu die Geburtsstunde des Giallo, in dem es eben um anderes geht.
Nicht zuletzt ist auch der Originaltitel bereits sexualisiert: SEI DONNE PER L’ASSASSINO, „Sechs Frauen für den Mörder“. Die Modewelt ist eine Welt, in der es vor aufregenden Frauen nur so wimmelt, in dem ein Harem mit 6 Frauen suggeriert wird, die jedoch kalt von Männerhand oder –wille abserviert werden. Ein Titel zwischen sexueller Verfügbarkeit und Schuldverdrängung.
Und natürlich zeigt sich auch in den Mordwaffen und -orten die Tötungslust jenseits der vordergründigen „rationalen“ Absicht. Der Plan, die Erpressung des Models Isabella mit einem Serienmord an sechs Frauen zu vertuschen („Die Polizei sucht jetzt bestimmt einen Sexualmörder“), ist ja per se bereits irrational. Sieht man die Mordszenen genau an, wird schnell klar, dass hier das Freudsche Unterbewusste definitiv die Geschicke des Mörders lenkt. Ein Mord geschieht in einem Keller (das „Es“, nicht nur in Hitchcocks PSYCHO), ein anderer in einem Wald (ebenso) und ein weiterer in einem Antiquitätenladen, in dem es vor vergangenen, an die Kindheit erinnernden Objekten nur so wimmelt. Nicht zuletzt wird eine Frau nicht nur mit einer phallischen Kralle einer Ritterrüstung umgebracht, der Mörder selbst steckt in der Rüstung: Kein besseres Symbol wäre denkbar, um zu zeigen, wie sich der Mann einen „Körperpanzer“ geschaffen hat, der mit Steifheit und Kühle seine Abwehr vor angstfreien Beziehungen zu Frauen und ihrer Libido herstellt. In Winding Refns 2016er Film ist der Panzer anders, weniger fassbar – aber stärker denn je vorhanden.
Sei donne per l’assassino
Italien 1964
Regie: Mario Bava
Darsteller: Eva Bartok, Cameron Mitchell, Thomas Reiner u.a.
Laufzeit: 86 min.
Eyes of Laura Mars
USA 1978
Regie: Irvin Kershner
Darsteller: Faye Dunaway, Tommy Lee Jones, Brad Dourif u.a.
Laufzeit: 104 min.
The Neon Demon
Dänemark / Frankreich 2016
Regie: Nicolas Winding Refn
Darsteller: Elle Fanning, Jena Malone, Abbey Lee Kershaw, Christina Hendricks u.a.
Laufzeit: 117 min.