Die von Russell T. Davies erdachte BBC/HBO-Koproduktion dreht sich um fünfzehn Jahre im Leben der Londoner Familie Lyons. Die Lyons sind ein ziemlich bunter Haufen verschiedenster Charaktere und entsprechend unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Ansichten: Der städtische Angestellte Daniel (Russel Tovey – LOOKING) ist schwul und plant in Kürze seinen Partner Ralph (Dino Fetscher – BANANA) zu heiraten. Der Finanzberater Stephen (Rory Kinnear – SKYFALL), Daniels älterer Bruder, ist verheiratet mit der dunkelhäutigen Celeste (T’Nia Miller – SEX EDUCATION). Unter ihrem Dach leben auch die beiden Töchter Bethany (Lydia West – DRACULA) und die jüngere Ruby (Jade Alleyne). Daniels jüngere Schwester Rosie (Ruth Madeley – THE ROOK) ist auf einen Rollstuhl angewiesen, managt dennoch eine Schulkantine und erzieht ihre beiden Söhne Lee und Lincoln allein, während sie permanent auf Partnersuche ist. Edith (Jessica Hynes – PADDINGTON 2) ist im Auftrag verschiedener Hilfsorganisationen ständig weltweit unterwegs und die Matriarchin der Familie, Großmutter Muriel (Ann Reid – THE SNOWMAN), lebt im alten, mittlerweile stark renovierungsbedürftigen Familiensitz in Manchester. Grundsätzlich sind alle mehr oder weniger mit ihrem Leben zufrieden und die Familie versteht sich insgesamt so gut, wie sich große Familien eben verstehen. Doch während einer Familienfeier 2019 ändert sich das Leben aller aufgrund eines internationalen Zwischenfalls, dessen Folgen sich vom Jahr 2019 bis in die dystopische Zukunft des Jahres 2034 erstrecken. Neben vielen privaten und persönlichen Veränderungen zieht dieser Zwischenfall auch weitreichende innen- und weltpolitische Veränderungen nach sich.
Russell T. Davies, bekannt für die Wiederbelebung der britischen Kultserie DOCTOR WHO, den queeren Serienklassiker QUEER AS FOLK oder den vielfach nominierten und ausgezeichneten Dreiteiler A VERY ENGLISH SCANDAL, hat mit YEARS AND YEARS eine gewagte Mischung aus BLACK MIRROR, THE HANDMAID’S TALE und THIS IS US geschaffen, die uns nach einem sonnig-freundlichen Beginn immer tiefer in ein dystopische Zukunft entführt, die erschreckend nah an der heutigen Wirklichkeit liegt. Schaut man sich heute die weltpolitische Lage an, so erscheinen viele der von Davies hier durchgespielten Szenarien gar nicht besonders unwahrscheinlich. Flüchtlingskrise, Brexit, Trump, China, Regierungsversagen, Korruption, Klimawandel, Homophobie, Finanzkrise, Populismus, Fake News und neue Rechte – all das greift Davies auf und klöppelt seine Geschichte mal schreiend komisch, im Verlauf der Serie jedoch immer beängstigender um die ganz praktischen Auswirkungen dieser Themen auf die Familie Lyons. Dabei zieht sich der Aufstieg der rechtspopulistischen Politikerin Vivienne Rook (eine wunderbare Emma Thompson in einer ungewohnt kaltschnäuzigen Rolle) wie ein roter Faden durch die Geschichte. Ihre frech-bösartige Figur wird aus gutem Grund sparsam eingesetzt, denn wann immer Thompson auftritt, zündet sie die nächste Eskalationsstufe der Geschichte.
Beim Zusehen wird einem unangenehm klar, warum viele Menschen solchen Heilsversprechern verfallen: Sie bieten die unterhaltsamsten TV-Auftritte, liefern Skandale und sorgen für reichlich Gesprächsstoff. Beste Beispiel dafür sind mehr oder weniger inkompetente Großmäuler wie Donald Trump, Boris Johnson oder Jair Bolsonaro, nach deren Vorbild Vivienne Rook ganz offensichtlich kreiert wurde. Davies führt dem Zuschauer gleichzeitig vor, wie viele Menschen das dauernde Anziehen der Dramaschraube und die ständige Ausweitung sagbarer Dinge akzeptieren oder kleinzureden versuchen, statt aufzustehen und sich dagegen zur Wehr zu setzen. Auch auf den Mikrokosmos der Lyons hat das Auswirkungen – es gibt Befürworter und Gegner der Politik von Rook, was zu Spannungen und direkten Folgen innerhalb der Familie führt.
Russel T. Davies hat hier keine absurd ausufernde Dystopie erfunden, sondern die heute weltweit grassierenden Krisen und technischen Fortschritte schlicht logisch weitergesponnen in eine mögliche – und vielerorts nicht mal sonderlich unwahrscheinliche Zukunftsvision. Und die fällt leider ziemlich erschreckend aus für die heutige liberale Demokratie westlicher Prägung, insbesondere wenn man verfolgt, mit welcher Frechheit z.B. ein amerikanischer Präsident samt Familie die demokratischen Prinzipien der Vereinigten Staaten angreift, unterstützt von opportunistischen Eiferern. Seinem derzeitigen Vize, dem Glauben und Religiosität vorgaukelnden Mike Pence, wird in der Serie auch eine originelle Erwähnung zuteil, deren Eintreffen sich allerdings niemand wünschen kann.
Years and Years hat sich bestimmte Themen und Trends vorgenommen – ähnlich wie Charlie Brookers BLACK MIRROR – und führt sie konsequent weiter. Wir erleben, wie nationalistische Bestrebungen und blanker Machthunger politische Systeme ins Wanken bringen, welche Folgen das Ignorieren des Klimawandels haben kann und wohin die unkontrollierte Weiterentwicklung von sozialen Netzwerken und Überwachungstechniken führen kann, insbesondere wenn sich die Bürger diesen scheinbar freudig unterordnen, wenn denn ein vermeintlicher Vorteil für sie herausspringt. Allen Weltkrisen zum Trotz, verliert Davies nie seine Charaktere aus dem Blick und nimmt sie als Beispiel für die nachvollziehbaren Auswirkungen auf die einzelnen Bürger in Vivien Rooks England. So hat er eine rasante Mischung aus Familiensoap, Charakterstudie und Politsatire geschaffen, die von Anfang bis Ende packend bleibt, abgesehen vielleicht von Bethanys „Transhumanismus“ Erzählstrang.
Eine höchst agile Kameraführung, clevere Schnitte und Montagen sorgen für optische Abwechslung, während wir dem erstklassigen Ensemble durch gute und schlechte Zeiten in eine ungewisse Zukunft folgen und dabei sechs Stunden lang blendend und intelligent unterhalten werden.
Wunderbares und mutiges Fernsehen!
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Years and years | GB 2019 | Regie: Simon Cellan Jones, Lisa Mulcahy | Darsteller: Rory Kinnear, T’Nia Miller, Anne Reid, Russell Tovey, Ruth Madeley, Jessica Hynes, Maxim Baldry, Dino Fetscher, Emma Thompson, George Bukhari, Jade Alleyne, Lydia West, Sharon Duncan-Brewster u.a.
Anbieter: Studiocanal