Der Mythos des Orson Welles gründet auf Patchwork. Was wäre gewesen, wenn… er nicht den Fahrstuhl von ganz oben: von „Voodoo Macbeth“, dem wie eine Reportage aufgezogenen Hörspiel „The War of the Worlds“, das den Angriff der Marsianer aus dem viktorianischen England in das zeitgenössische, durch Säbelrasseln in Europa beunruhigte Amerika verlegte, dem Beinahe-Filmprojekt THE HEART OF DARKNESS und dem stattdessen realisierten, weniger anspruchsvollen, aber von Cineasten weltweit geschätzten CITIZEN KANE, einem Kamerafilm voller Filmtricks, der Ultima Ratio des Hollywood-Studiofilms, den Fahrstuhl also von ganz oben – Genie – abwärts nach ganz unten genommen hätte, in den Abgrund von Steven Pauls SLAPSTICK, WHERE IS PARSIFAL?, HOT MONEY und als Sprecher (Unicron) in einer animierten Version von TRANSFORMERS, die posthum herauskam. Zum Opfer gefallen ist seine Karriere einer Atmosphäre ständiger Flucht vor der Steuer und vor Schulden, seinem Ego und seiner angeblichen Arroganz, dem Misserfolg seiner fertiggestellten Filme und dem experimentellen, unkommerziellen Status seiner unvollendeten, aber auch seinem Alter und seiner Fresssucht. Als seine Bewunderer wie Jack Nicholson genügend eigene Größe erreicht hatten war an eine Zusammenarbeit mit dem Genius emeritus nicht mehr zu denken,
Billigfilmer Bert Ira Gordon wusste, wie er seinen Star Welles 1972 in NECROMANCY (THE WITCHING) bei Laune halten konnte: Er bestellte einfach einen Koch an den Drehort, der für den Darsteller des Hexenmeisters Cato eine Woche lang Steaks briet. Im selben Jahr war Welles im Fernsehen als THE MAN WHO CAME TO DINNER zu sehen. Immer mehr begann der einst ansehnliche, stattliche Schauspieler seinem Alter Ego Hank Quinlan aus dem 1957 gedrehten Film TOUCH OF EVIL zu ähneln.
THE HEART OF DARKNESS wäre Joseph Conrad plus Shakespeare plus Hollywood plus Welles geworden, CITIZEN KANE wurde Shakespeare plus Hollywood plus Welles (mit einer Anspielung auf William Randolph Hearst). Nach dem Scheitern der MAGNIFICENT AMBERSONS (DER GLANZ DES HAUSES AMBERSON) und des lateinamerikanischen Episodenfilms IT’S ALL TRUE, die seine Zusammenarbeit mit RKO beendeten, folgten noch drei unterbudgetierte Shakespeare-Filme, vier billige Thriller mit eher unterbelichteten Stories, in denen Welles seine Figur aufblies zu Ballons von Shakespeare-Proportionen, ein Kafka-Film (DER PROZESS), ein Fernsehfilm (STUNDE DER WAHRHEIT), F FOR FAKE (der wie kein anderer Filmtitel die Summe seines Lebens ist) und der bis zu seinem Tod nicht beendete THE OTHER SIDE OF THE WIND. Dazu Filmauftritte, die bis auf Harry Lime in THE THIRD MAN (DER DRITTE MANN) schnell vergessen waren. John Hough, der Welles als Long John Silver in der SCHATZINSEL vor der Kamera hatte, erinnert, dass der Star an Wochenenden einfach die Filmcrew kidnappte und für eines seiner eigenen Projekte einsetzte.
Ursprünglich war Welles auch in TOUCH OF EVIL „nur“ als Darsteller vorgesehen. Universal-International-Chef Edward Muhl hatte die Vorlage, den Mystery-Roman BADGE OF EVIL (deutsch: UNFEHLBARKEIT KANN TÖDLICH SEIN) von Whit Masterson (= Pseudonym der Autoren Bill Miller und Bob Wade) 1956 billig eingekauft. Paul Monash schrieb die erste Drehbuch-Fassung. Welles stand 1957 bei Universal unter der Regie von Jack Arnold für MAN IN THE SHADOW (DES TEUFELS LOHN) vor der Kamera und wurde dann gleich für die Rolle des unappetitlichen, rassistischen Polizei-Captain Quinlan verpflichtet, der seine Fälle an der amerikanisch-mexikanischen Grenze auf eigene, illegitime, brutale Weise löst und nicht davor zurückschreckt, Beweise zu fälschen. Als man Charlton Heston, Cecil B. DeMilles Mose aus THE TEN COMMANDMENTS (DIE ZEHN GEBOTE), die Hauptrolle des mexikanischen Drogenfahnders Miguel Vargas anbot, ging der davon aus, dass Welles auch Regie führen würde. Auf die Idee waren die Verantwortlichen bei Universal überhaupt noch nicht gekommen.
Welles: „Man bot Charlton Heston das Drehbuch an und sagte ihm am Telefon, es sei von Orson Welles. Heston verstand das falsch und war der Meinung, ich sollte die Regie übernehmen, in welchem Fall er bereit sei, was auch immer mit mir zu drehen. Die Leute von der Universal ließen ihn im Irrtum, hängten auf und riefen automatisch mich an, ob ich Lust hätte, bei dem Film Regie zu führen. Tatsächlich hat Heston wortwörtlich gesagt: Ich spiele in jedem beliebigen Film unter der Regie von Orson Welles.“
Wenn man so will, war Welles ein Regisseur von Hestons Gnaden, den Universal unbedingt als Star wollte, aber er machte den Film zu seinem, obwohl er angeblich nur als Darsteller bezahlt wurde (schwer zu glauben). Nach zehn Jahren war es der erste (und letzte) amerikanische Film, bei dem Welles Regie führte. Gleich schrieb er das Drehbuch film-noir-gerecht um, blähte seine Rolle auf und entwickelte für den Prolog eine ungeheuer anspruchsvolle, fast dreieinhalbminütige Kamerafahrt (Russell Metty und Schwenker Philip H. Lathrop), denn er war der sicher korrekten Ansicht, dass Filme mit einem ordentlichen Paukenschlag zu beginnen hätten. Ein Autorenfilm, der dennoch nicht mehr als eine Auftragsproduktion war, wie immer in Welles‘ Laufbahn von Dritten umgearbeitet (Harry Keller und Kameramann Cliff Stine mussten Szenen nachdrehen) und gekürzt, schließlich, ein ungeliebter Wechselbalg, fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit aufgeführt. Erst als das pessimistische, morbide Werk besonders von französischen Cineasten (u.a. Truffaut) zum Meisterwerk der Filmgeschichte erklärt wurde, bekannte sich Universal zu dem Film und ließ ihn 1998 auf Grundlage eines 58-seitigen, lange verschollenen Memorandums von Welles restaurieren.
Welles mag es aus dem Grab heraus kommentiert haben: „Ich habe Jahre, Jahrzehnte meines Lebens damit verloren, für das Recht zu kämpfen, die Dinge auf meine Weise zu machen, und meist habe ich vergeblich gekämpft.“ Aber immerhin: I did it my way. So bleibt der Mythos bestehen.
Erschienen ist IM ZEICHEN DES BÖSEN in einer 4k-remasterten Neuauflage bei Koch Media. Auf zwei Discs finden sich der rekonstruierte Director´s Cut sowie die Kino- und die Previewfassung. Enthalten sind neben der englischen Tonspur beide deutsche Synchronfassungen.
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Touch of Evil | USA 1958 | Regie: Orson Welles | Darsteller: Charlton Heston, Janet Leigh, Orson Welles, Joseph Calleia, Akim Tamiroff, Joanna Moore u.a.
Anbieter: Koch Media