„Focus.“ Die alleinerziehende Mutter Frankie (Ariella Mastroiani) nimmt ständig Audiokassetten auf. Sie helfen ihr „keeping me from zoning out“ („sie bewahren mich davor, wegzudriften“), denn Frankie hat ein Problem: Sie leidet an Dyschronometrie, einer Erkrankung des Kleinhirns, bei der die betroffene Person die vergangene Zeit nicht mehr richtig einschätzen kann, d.h. Frankie leidet unter einer verzerrten Zeitwahrnehmung. Um sich in die Jetztzeit und in ein Verhältnis zur Vergangenheit zu setzen, beginnt sie ihre Audioaufnahmen immer mit dem Wort: „Focus.“
Der Low-Budget-Thriller GLAZER ist clever und psychotisch, ein Serie Noir-Thriller in Farbe, aber 16mm, nächtlich, grobkörnig. Düster und uns immer wieder in der Schwebe haltend, weil unser Wissen auf Frankies Audioaufnahmen basiert. Sieht sie die Realität richtig oder mischt sich etwas? Augenblicklich auch wird man an die düsteren, obsessiven und unheimlichen Filme des New Yorker No-Wave-Undergroundkinos erinnert, das Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre von Regisseuren wie Beth und Scott B, Amos Poe, Lizzie Borden oder Nick Zedd geprägt wurde. Dementsprechend zitiert Regisseur Ryan J. Sloan (nebst Hitchcock) auch die großen Regisseure, die in derselben Zeit und mit demselben Spirit groß wurden: Cronenberg (in Traumszenen mit Videokassetten-Body-Horror, die auf VIDEODROME anspielen) und Lynch, Lynch, Lynch (und dem Thema geschuldet auch MEMENTO).
Frankie hat gerade ihre Stelle als Tankwartin verloren und braucht Geld. Eine neue Stelle zu finden ist nicht einfach, ihre Dyschronometrie verhindert sehr viele Jobs. Da kommt ein dubioser Job gelegen, der sich erst nach einer guten, einfachen Aufgabe anfühlt: Wenn Frankie ihrer Selbsthilfegruppe-Bekanntschaft Paige (Renee Gagner) hilft, deren Auto von deren gewalttätigen Bruder zurückzustehlen und wegzufahren, verdient sie locker mal 3000 Dollar. Wie wir vom Noir-Genre her sofort ahnen: So einfach wird es nicht. Falls man am Ende das Geld überhaupt sieht, wird das mit viel Aufwand und Gefahren verbunden sein. Bald ist Frankie überfordert und eine Welle von Gefahren bricht über ihr zusammen und sie gerät in einen düsteren Fall.
Dramaturgisch ist Sloans Erstling nicht ganz auf der Höhe (aber durchaus spannend), doch wie die alten No-Wave-Werke steht hier nicht die voranpeitschende Handlung im Vordergrund, sondern die Charakterisierung einer düsteren Wahrnehmung der Welt, gezeigt an einer jungen Frau, die zwischen eigener Wahrnehmungsstörung und Selbstmord-Selbsthilfegruppen plötzlich mit der verbrecherischen Gesellschaft konfrontiert wird.

Gazer
USA 2024
Regie: Ryan J. Sloan
Drehbuch: Ryan J. Sloan, Ariella Mastroianni
Kamera: Matheus Bastos
Musik: Steve Matthew Carter
Darsteller: Ariella Mastroianni, Renee Gagner, Jack Alberts, Marcia DeBonis u.a.
Laufzeit: 114 min.