Es gibt wohl kaum Ereignisse des 20. Jahrhunderts, die sich derart traumatisch ins kollektive Bewusstsein des japanischen Volkes eingebrannt haben, wie der Einsatz der todbringenden Atombombe gegen ihr Land. Eine offene Wunde blieb, die ihren Schmerz in alle Lebensbereiche ausstrahlen ließ – auch in die japanische Filmwirtschaft der Nachkriegszeit. War es mit GODZILLA (1954) ein massenwirksames Kinophänomen, dass sich entscheidend auf das Atomtrauma bezog, ging dessen Regisseur Ishirō Honda vier Jahre später noch einen Schritt weiter: nunmehr nicht überlebensgroß, sondern still und leise – doch genauso tödlich wie die riesige Echse – ist das grünschleimige Grauen, dass durch die Metropole schleicht.
Alles beginnt mit einem schiefgegangen Raubüberfall, bei dem einer der Gangster spurlos verschwindet – lediglich seine Kleidung bleibt zurück. Die Polizei um Inspektor Tominaga (Akihiko Hirata) steht vor einem Rätsel, hofft auf die Mithilfe Chikakos (Yumi Shirakawa), der Braut des Verschwundenen. Doch anstatt Lichts ins Dunkel zu bringen, häufen sich die Fälle verschwundener Menschen, von denen nichts bleibt als ihre irdische Habe, die sie am Körper trugen. Erst Dr. Masada (Kenji Sahara) bringt den Stein ins Rollen, sieht er doch einen Zusammenhang mit dem verschwundenen Fischkutter, der in Folge eines Atombombentests in einen radioaktiven Niederschlag geriet. Anhand von Laboruntersuchungen wird die schreckliche Wahrheit nachgewiesen: die Strahlung hat neue Wesen erschaffen; grüne, schleimige Geisterwesen, die sich mit menschlicher Intelligenz auf die Jagd machen und alles Leben verzehren, dass sich ihnen in den Weg stellt. Tokio steht vor einer Katastrophe und am Vorabend der Apokalypse.
Ishirō Honda, dem Godzilla-Produzent Tomoyuki Tanaka DAS GRAUEN SCHLEICHT DURCH TOKIO zur Inszenierung anvertraute, gelang nicht weniger als eine Meisterleistung. In der Figurenzeichnung vielseitig, in der Spannungsdramaturgie gekonnt und nervenaufreibend. In opulenten Dekors und bunten Sets agierten die Darsteller, deren Besetzungszettel sich wie ein who-is-who der Toho-Studios liest, auf den Punkt und stets versiert. Die Crew um Eiji Tsuburaya fertigte schließlich Spezialeffekte, die sich im Angesicht der Zeit nicht vor Hollywood-Produktionen verstecken mussten und zündeten für Tokio am Schluss des Filmes ein alles verzehrendes Inferno, dass auch dem antiken Rom unter Nero nicht schlecht gestanden hätte. „Die Schöne und der Flüssigmensch“, wie sich der Originaltitel übersetzen ließ, zeigte, zu was Toho auch abseits großer Monsteraction in Bezug auf Spannung und Effekte imstande war. Außerdem belegte er, zu einer Zeit, in der auch andere Weltmächte sich mit der Thematik beschäftigten, die eindrucksvollen Fähigkeiten Hondas als Regisseur.
Komponist Masaru Sato, der später auch Kaijus wie FRANKENSTEIN UND DIE UNGEHEUER AUS DEM MEER (1967) oder KING KONG GEGEN GODZILLA (1974) vertonte, sprang hier für den sonst obligaten Honda-Partner Ifukube ein und gestaltete seinen Score – im Gegensatz zu seinem sonst eher martialisch orchestrierenden Landsmann – zeittypisch und ambivalent. Während die Spannungsszenen und Angriffe der glibberigen Monsterwesen durch mit Synthies verstärkte, hochlagige Streicherglissandi untermalt werden und ansonsten schwere Symphonik im Geiste Korngolds und Rózsas erklingt, generierte er neben zwei gedoubelten Vokaltiteln für Yumi Shirakawa feschen Rumba und fetzigen Swing, der an Chico Hamilton oder Tito Puente denken lässt. Dass Sato am Schluss ein ungemein hoffnungsfrohes und patriotisches Opus generiert, welches das Zeug zur Nationalhymne hatte, setzte ein großes Ausrufezeichen hinter die Vertonung dieses Klassikers.
In der Reihe ‚Die Rache der Galerie des Grauens‘ erscheint DAS GRAUEN SCHLEICHT DURCH TOKIO als mittlerweile sechster Eintrag zu dieser begeisternden Serie. Veröffentlicht als BD-/DVD-Kombo-Release erstrahlt der in breitwandigem TohoScope und Eastmancolor gedrehte Film in neuem Glanz, zeigt sein ganzes Spektrum an Effekten und farblichen Finessen auf großen Diagonalen und Heimkinowänden dieses Landes. Neben dem japanischen Originalton und der deutschen Synchronisation – in der sich die Sprechergranden der ausgehenden 1950er Jahre quasi das Mikro in die Hand geben – ist der englische Dub verfügbar; die einst geschnittenen Stellen liegen in Japanisch mit deutschen Untertiteln vor. Zwei Audiokommentare sind zum Hauptfilm anwählbar: einmal das Doppel aus Dr. Rolf Giesen und Jörg M. Jedner, andernfalls das bewährte Kaiju-Gespann Jörg Buttgereit, Bodo Traber und Alexander ‚Dr. Monkula‘ Iffländer – beide in Ihrer Fülle an Informationen kaum zu toppen. Separat anspielbar ist die deutsche Kinofassung, die mit der amerikanischen Version inhaltsgleich ist und einst leicht gekürzt von Columbia Pictures in den Verleih gebracht wurde. Neben dem deutschen Kinotrailer sind der originale Werberatschlag, das Filmprogramm und eine ausufernde Bildergalerie enthalten. Abrundendes Schmankerl ist das Booklet, welches Audiokommentierer Jedner unter seinem KX-gestählten ‚nom de plume‘ Jo Steinbeck verfasste und viele Fakten und Hintergründe zu Darstellern und Filmmotiven in ausführliche Zeilen kleidet.
Niemand sollte den Fehler machen, Ishirō Honda einfach nur als ‚guten Monsterfilmer‘ abzutun; wer bis jetzt damit haderte, kann sich mit DAS GRAUEN SCHLEICHT DURCH TOKIO eines Besseren belehren lassen. Denn abseits aller Kaiju-Pfade ist DAS GRAUEN SCHLEICHT DURCH TOKIO nicht nur ein hochunterhaltsamer Schreckensthriller, sondern auch Kommentar zu einem nationalen Trauma – und darüber hinaus ein mordsspannender und hochwertiger Publikumsfilm … und in Zeiten von Fukushima noch genauso aktuell wie anno dazumal.
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Bijo to Ekitai Ningen, Japan 1958, R: Ishirō Honda, D: Yumi Shirakawa, Kenji Sahara, Akihiko Hirata, Koreya Senda, Makoto Satō, Eitarō Ozawa u.a.
Anbieter: Anolis Entertainment