Es ist Jahre her, dass die fünf Crain-Geschwister mit ihren Eltern Olivia (Carla Gugino, GERALD´S GAME) und Hugh (Henry Thomas, OUIJA–ORIGIN OF EVIL) in das alte Hill House einzogen. Hugh und Olivia wollen das Haus renovieren, teuer verkaufen und dann ihr „Für immer“-Haus bauen. Doch der Aufenthalt im Hill House hat auf jedes Familienmitglied unterschiedliche und verstörende Auswirkungen, die schließlich in einer Tragödie und der überstürzten Flucht aus dem Haus münden. Noch Jahre später werden die Geschwister von den damaligen Vorgängen verfolgt und eine weitere Tragödie führt sie zurück in ihre Vergangenheit.
Aus dem „großen Bruder“ Steven (Paxton Singleton / Michiel Huisman, THE INVITATION) ist ein zynischer Autor geworden, der die Familiengeschichte zum Grusel-Bestseller verarbeitet und damit für eine Menge Streit zwischen den Geschwistern gesorgt hat. Die vernünftige Shirley (Lulu Wilson / Elizabeth Reaser – OUIJA–ORIGIN OF EVIL) wurde als Erwachsene zu einer rechthaberischen Bestattungsunternehmerin mit sozialer Ader. Theodora (McKenna Grace – I, TONYA / Kate Siegel – HUSH) hat ihre schon als Kind ausgeprägten empathischen Fähigkeiten zum Beruf gemacht, ist aber ansonsten distanziert und beziehungsunfähig. Luke (Julian Hilliard / Oliver Jackson-Cohen – FASTER) hat seine dicke Kinderbrille gegen eine Heroinspritze getauscht und seine Zwillingsschwester Nell (Violet McGraw – READY PLAYER ONE / Victoria Pedretti – ONCE UPON A TIME IN HOLLYWOOD), die als Kind die schlimmsten Geistererscheinungen ertragen musste, leidet unter Schlaflähmungen.
Alle Kinder habe sich über die Jahre von ihrem Vater Hugh (Timothy Hutton – STARK-THE DARK HALF) abgewendet, der seine Frau Olivia bei der überstürzten Flucht im Hill House zurückließ, wo sie unter mysteriösen Umständen den Tod fand. Über den genauen Hergang hat Hugh die Kinder nie informiert. Diese von inneren Spannungen zerrüttete Familie muss nun einen Weg finden, die Geheimnisse der Vergangenheit ans Licht zu holen und den Spuk von Hill House zu beenden.
Netflix legt mit dieser 10-teiligen Serie die mittlerweile dritte Verfilmung von Shirley Jacksons klassischem Roman vor. Robert Wise (THE DAY THE EARTH STOOD STILL) erfreute 1963 mit einem beunruhigenden Thriller, während Jan de Bont (SPEED) 1999 eine Riege von Stars unter einem unsäglichen CGI-Gewitter begrub. Die erste Verfilmung gilt heute als Klassiker, über die zweite Version spricht man höchstens noch in einem abfälligen Nebensatz.
Mike Flanagan (GERALD´S GAME, HUSH, OCULUS, OUIJA-ORIGIN OF EVIL) hat sich nun von Jacksons Vorlage inspirieren lassen und eine neue Geschichte in das alte Grundgerüst eingearbeitet. Flanagan legt durchaus Wert auf gepflegten Grusel, erzählt dabei aber die Geschichte einer zerstörten Familie, die Folgen von Kindheitstraumata und ihre Auswirkungen auf das spätere Erwachsenenleben. Diese, mit vielen technisch exzellent und überraschend gestalteten Rückblenden erzählte Konstruktion erweist sich als Glücksgriff und ermöglicht Flanagan, sowohl die zahlreichen Charaktere näher zu beleuchten als auch durch deren unterschiedliche Erfahrungen und Erinnerungen nach und nach die Ereignisse der letzten verhängnisvollen Nacht im Hill House zu rekonstruieren. Flanagan arbeitet inzwischen mit einem lange eingespielten Team vor und hinter der Kamera. Hier sticht besonders sein Kameramann Michael Fimognari hervor, der eine Sternstunde eleganter Kameratechnik abliefert, abgerundet durch fantastische Schnitte und Überblendungen zwischen den unterschiedlichen Zeitebenen.
Allein für eine Reihe bis zu 17 Minuten langer Plansequenzen in Folge 6 lohnt sich schon das Anschauen dieser Serie. Sie ist technisch und optisch schlicht brillant. Dabei bedient sich Flanagan solcher Techniken nicht aus reinem Selbstzweck, sondern setzt sie bewusst ein. So akzentuiert er z.B. in besagter Folge das erste Zusammentreffen der gesamten Restfamilie seit der damaligen Flucht, indem er mit der Steadycam ununterbrochen zwischen den Familienmitgliedern umherfährt und deren Verhältnis zueinander unterstreicht. Grandios.
Flanagan lässt sich Zeit für seine Geschichte, garniert sie mit sparsamen Effekten und geduldig aufgebauter Spannung, statt sich nur auf die hier und da durchaus vorhandenen Jump scares zu verlassen. Dabei setzt er voll auf seine überwiegend sehr überzeugende Darstellerriege, von denen auch die Hälfte bereits in früheren Projekten mit ihm gedreht hat. Bemerkenswert ist die Ähnlichkeit der Kinder mit den erwachsenen Darstellern – für mich in vielen Filmen und Serien ein echtes Ärgernis – , aber hier nur ein kleines Detail, aber auch ein Zeichen dafür, mit welcher Akribie Flanagan und sein Team hier vorgegangen sind.
Wie so oft bei Netflix ist auch diese Serie ein wenig zu lang geraten. Hier hätten auch 9 Folgen oder eine etwas kürzere Laufzeit pro Folge ausgereicht, aber das ist jetzt ein eher kleinlicher Kritikpunkt. Insgesamt hat Flanagan mit seinem Team eine wunderbar atmosphärische und überzeugend gespielte Gruselshow geschaffen, die Jacksons Grundstory clever um die Folgen der eigentlichen Geschichte erweitert. Gleichzeitig präsentiert er uns die Erkenntnis, dass die schlimmsten Heimsuchungen nicht durch Geister, sondern durch Erinnerungen, Stillschweigen und Unterlassungen hervorgerufen werden.
Und da das Ganze mit solcher Eleganz und technischer Raffinesse erzählt wird, kann man getrost über manche Länge hinwegsehen.
___________________________________________________________________
The Haunting of Hill House, USA 2018 | Regie: Mike Flanagan | Drehbuch: Mike Flanagan, Meredith Averill, Charise Castro Smith, Scott Kosar, Elizabeth Ann Phang basierend auf dem Roman von Shirley Jackson | Musik: The Newton Brothers | Kamera: Michael Fimognari | Schnitt: Jim Flynn, Brian Jeremiah Smith, Ravi Subramanian | Produktion: Dan Kaplow, Mike Flanagan, Meredith Averill, Justin Falvey, Darryl Frank, Trevor Macy | Darsteller: Carla Gugino, Michiel Huisman, Henry Thomas, Victoria Pedretti, Oliver Jackson-Cohen, Elizabeth Reaser, Kate Siegel, Paxton Singleton, McKenna Grace, Julian Hilliard, Violet McGraw, Lulu Wilson, Annabeth Gish, Timothy Hutton, Russ Tamblyn | Laufzeit: 500 Min. (10 Folgen)