Tokioter Puppenkiste.

Es gibt wohl kaum Ereignisse des 20. Jahrhunderts, die sich derart traumatisch ins kollektive Bewusstsein des japanischen Volkes eingebrannt haben, wie der Einsatz der todbringenden Atombombe gegen ihr Land. Eine offene Wunde blieb, die ihren Schmerz in alle Lebensbereiche ausstrahlen ließ – auch in die japanische Filmwirtschaft der Nachkriegszeit. War es mit GODZILLA (1954) ein massenwirksames Kinophänomen, dass sich entscheidend auf das Atomtrauma bezog, ging dessen Regisseur Ishirō Honda mit weiteren Klassikern wie DAS GRAUEN SCHLEICHT DURCH TOKIO, KRIEG IM WELTENRAUM oder MOTHRA BEDROHT DIE WELT in den kommenden Jahren auf und davon. Die Kinos füllten sich bis zum letzten Platz, die Popkultur wurde weltweit bereichert – und mit GODZILLA UND DIE URWELTRAUPEN schufen die Kaiju-Macher nicht weniger als eine Subsumtion ihrer bisherigen Erfolge.

Urweltraupen_1 Nach einem Unwetter wird ein gigantisches Ei an der japanischen Küste angespült. Windige Geschäftemacher wollen es gegen Geld zur Touristenattraktion machen, doch zwei klitzekleine Mädchen warnen davor – ihre Göttin, die Riesenmotte Mothra, erhebe Anspruch auf ihr Ei, es müsse zurück zu einer fernen Insel. Doch die Wellen des Taifuns haben auch den schlafenden Godzilla angeschwemmt, der erwacht und sich flugs auf den Weg macht, das Ei zu zerstören. Dabei zieht er eine Schneise der Verwüstung, das Militär scheint machtlos. Als sich Mothra aufschwingt und es zum großen Kampf kommt, bricht plötzlich die Schale des Eis, dem zwei riesige Raupen entsteigen – alle Zutaten für einen großen Monsterkampf sind nunmehr angerichtet.

Was dem Drama sein Honda, ist der Action ihr Tsuburaya – die Zusammenarbeit von Regisseur und Spezialeffekte-Spezialist kann man retrospektiv gar nicht oft genug als kongenial einstufen, so sehr beeindrucken die jeweiligen Sequenzen auch heute noch. Wie beim Vorgänger MOTHRA BEDROHT DIE WELT war die Geschichte von Shinichi Sekizawa, der in seinem Skript nicht nur einen Protest des ohnehin traumatisierten Japans gegen die amerikanischen Atomtests im Südpazifik einflocht, sondern auch die Begeisterung seiner Landsleute für märchenhafte Geschichten im Blick behielt, die Grundlage für den Erfolg von Godzilla und die Urweltraupen. Aufgehübscht mit humoristischem Beiwerk, dem Star Akira Takarada, der auch in Fukudas Godzilla-Erstling FRANKENSTEIN UND DIE UNGEHEUER AUS DEM MEER dabei sein sollte, und dem herzerwärmenden Auftritt des damals auch in Deutschland populären Schwestern-Gesangsduos ‚The Peanuts‘, wurde daraus ein Konglomerat an filmischem Fantasy, dass sich nicht nur jeder Genrebeschränkung verweigerte, sondern für einige Jahre geradezu Weltmarktführer auf diesem Gebiet war.

Urweltraupen_5 Dass Toho mit der überdimensionalen Motte Mothra eines der neben Godzilla populärsten und dank der tricktechnischen Umsetzung auch filigransten Filmmonster der Studiogeschichte wiederverwendete, erwies sich als Glücksfall für den Film. Manche Storyideen wurden später noch des Öfteren aufgewärmt, wie der launige „Godzillaturm“ im dort jedoch außerirdisch organisierten „Kinderland“ in FRANKENSTEINS HÖLLENBRUT. Von eingefleischten Fans wird GODZILLA UND DIE URWELTRAUPEN gar als ziemliches Nonplusultra der ‚klassischen‘ Shōwa-Staffel angesehen.

Auch auf der Tonspur tut sich Großes, ist mit Akira Ifukube doch ein genialer Tonsetzer am Werk. Seine mit großem Orchester eingespielten Partituren, die thematisch den legendären und wuchtigen GODZILLA-Marsch aufleben lassen und westliches Klangpanorama mit fernöstlicher Melodik verweben, geben dem Streifen zusätzlichen Tiefgang und halten dem Vergleich mit den Kompositionen aus der Tramfabrik jederzeit stand. Dass Ifukube an vielen Stellen die durch seinen Kollegen Yūji Koseki für MOTHRA BEDROHT DIE WELT geschriebenen Leitthemen für Mothra und ‚The Peanuts‘ interpoliert, zeigt die innere Kontinuität, auf die Toho damals Wert legte.

Urweltraupen_2 Anolis legt mit dieser auf 1500 Exemplare limitierten Veröffentlichung einen weiteren Teil seiner beispielhaften Kaiju-Collection vor. Veröffentlicht im wertig-massiven Metalpack erstrahlt der in breitwandigem TohoScope und Technicolor gedrehte Film in neuem Glanz, zeigt sein ganzes Spektrum an Effekten und farblichen Finessen auf großen Diagonalen und Heimkinowänden dieses Landes. Die deutsche wie japanische Tonspur kommt klar und verständlich über die Lautsprecher, in Anbetracht der Materiallage speziell der hierzulande auffindbaren Prints ein kleines Wunder. Auch bei den Extras hält das Label den selbst gewählten, hohen Standard bisheriger Releases der Reihe. Zwei Audiokommentare sind zur japanischen Fassung (natürlich auch mit deutscher Tonspur) anwählbar: einmal das Gespann um die Herren Jörg Buttgereit, Bodo Traber und „Dr. Monkula“ Alexander Iffländer, separat doziert Florian Bahr zum Thema. Beide Kommentare sind in Ihrer Fülle an Informationen zu Kaijus und den allgemeinen Kinophänomenen damaliger Zeit kaum zu toppen. Weiterhin gesellt sich die halbstündige Featurette „60 Jahre Godzilla: Akira Takarada erzählt“ hinzu, in der Jörg M. Jedner dem stets gentlemanhaften Akteur viele Geschichten seiner Karriere entlockt. Neben dem japanischen Trailer und der deutschen Super-8-Fassung ist eine umfangreiche Bildergalerie mit internationalen Motiven enthalten.

Auf einer separaten DVD ist die deutsche Kinofassung abgelegt, die auf dem leicht geänderten US-Cut basierte und in Deutschland erst mit zehnjähriger Verspätung erschien – noch dazu nicht über Constantin-Film, sondern von der Gloria verliehen. Zeitgleich mit dem 1974 aktuellen KING KONG GEGEN GODZILLA kam Godzilla und die Urweltraupen in unsere Kinos, so konnte durch die Zuschauer direkt verglichen werden, welcher Ansatz zum Sujet dem Fan lieber sei. Die Synchronbearbeitung punktet darüber hinaus mit legendären Sprechern wie Gerd Martienzen, Friedrich W. Bauschulte, Wolfgang Völz, Gisela Fritsch, Arne Elsholtz, Andreas Mannkopff, Gerd Duwner, Edgar Ott oder Friedrich Georg Beckhaus. Neben dem deutschen Kinotrailer sowie Werberatschlägen, Presseheften und einer opulenten Bildergalerie mit deutschen Motiven, sollte man die Scheibe nach einem netten Easter Egg absuchen, dass es zu entdecken gilt. Abrundendes Schmankerl ist ein kenntnisreiches und bunt bebildertes, zwanzigseitiges Booklet, welches Ingo Strecker verfasste, viele Fakten und Hintergründe zu Darstellern und Filmmotiven in ausführliche Zeilen kleidet und damit das opulente Paket beschließt, das kaum Wünsche offenlassen und von den Fans sicher honoriert werden dürfte! Separat erschienen ist der Film mittlerweile auch auf Blu-ray, mit etwas abgespeckten Extras.

Urweltraupen_4 Auf Kaijus im Allgemeinen muss man sich als Zuschauer einlassen können, auf GODZILLA UND DIE URWELTRAUPEN sollte man dies im Besonderen tun. Wer das schafft, wird mit nicht weniger als einem abwechslungsreichen, farbenfrohem, actionreichen und hochunterhaltsamen Film belohnt, dessen Sichtung auch heute noch zum Staunen, Genießen, Entdecken und Träumen einlädt. Für Godzilla, Mothra und die Raupen muss man in seinem Herzen einfach Platz haben.

___________________________________________________________________

Mosura tai Gojira | Japan 1964 | Regie: Ishirō Honda | Darsteller: Akira Takarada, Yuriko Hoshi, Hiroshi Koizumi, Yū Fujiki, Kenji Sahara, Die Peanuts (Yumi & Emi Itō) u.a.

Anbieter: Anolis Entertainment