Mario Bavas letzter Horrorfilm SHOCK handelt ausschliesslich in einem schönen Haus auf dem Land, in das Dora (Daria Nicolodi), ihr zweiter Mann Bruno (John Steiner) und der kleine Marco (David Colin Jr.) einziehen. Schnell wird klar, dass das neue Haus auch ein neues Leben anstoßen soll. Marcos Vater (und Doras erster Mann) Carlos war nämlich drogensüchtig und starb unter ungeklärten Umständen. Dora will das Trauma rund um Carlos’ Tod hinter sich lassen, doch eine Kamerafahrt durch das noch nicht bezogene Häuschen lässt den Zuschauer schon von Anfang an die Vergangenheit sehen, die als Unbewusstes in der neuen Familie schlummert: schmutzig, unaufgeräumt, umgekippte Stühle, dreckige Lavabos, ein Haufen alter, schwerer Möbelstücke im Keller und ebendort eine Backsteinwand, die neu gemacht zu sein scheint.
Und um der Inneneinrichtung noch mehr Bedeutung beizumessen, beginnt auch die Filmhandlung so. Einzugstag. Die Spinnweben werden weggemacht und das Umzugsteam wird angewiesen, wo die Kisten hinkommen. Im neuen Idyll von Wohnung fragt Marco bald einmal: „Are we gonna live here forever?“ In einem Tonfall, der nichts Gutes verspricht. Magisch zieht es den Jungen in den Keller, in dem verstaubte wuchtige Holzschränke und anderes Mobiliar herumstehen, die so gar nicht zum coolen Chic der neuen Inneneinrichtung passen. Im Keller steht der Ramsch einer vergangenen Zeit. Und die Backsteinwand. (Wer dabei an Edgar Allan Poes „Das Fass Amontillado“ denkt, hat bereits Ahnungen in die richtige Richtung.)
Der kleine Marco ist der Besessene, wie wir das aus THE EXORCIST (1973) und THE OMEN (1976) kennen. Seine Psyche führt ein Doppelleben, ein Leben hinter der Maske, das immer mehr hervortritt. Er liegt mit weit geöffneten Augen da, wenn er eigentlich schlafen sollte. Er flucht seine Mutter mit „Pigs! Pigs! Pigs!“ an, nachdem er seine Eltern beim Sex beobachtet hat. Er schafft eine Atmosphäre der Feinseligkeit – und die Möblierung unterstützt ihn. Die Einrichtungsgegenstände der Wohnung übernehmen den Angriff auf die Familienidylle. Mehr oder weniger deutlich sind das Marcos Aktionen. Eine Rasierklinge zwischen zwei Tasten des Flügels, wenn Dora losspielen will, und zuvor eine surreale Szene mit einem höhnisch lachenden Klavierdeckel dokumentieren die Zerstörung von Harmonie. Der Rechen im Garten, über den Dora stolpert, führt in die surreale Horrorszene einer Hand, die aus der Erde herauskommt und an ihrem Bein kratzt. Gefolgt von einem Matchcut, der aus den Zinken Finger macht. Der Garten „lebt“, das Gartenwerkzeug „lebt“. Das Lebendige symbolisiert durch Hände, die für sich allein gesehen schon in frühen surrealen und Horrorfilmen (UN CHIEN ANDALOU, ORLACS HÄNDE) als selbständiges Körperteil Grauen verbreiten, weil es zum Werkzeug des verdrängten Bösen im Unbewussten wurde. Hier agieren Hände nicht nur aus der Gartenerde heraus, sondern aus unterschiedlichen Möbeln. Vorzugsweise aus Schränken. Geschickt verbindet Bava eine fortschreitende Story mit einer zunehmenden Kadenz an Schockszenen. Mario Bavas Film wirkt teilweise wie eine Vorstufe zu Wes Cravens NIGHTMARE ON ELM STREET-Surrealismus. Ein herunterrasender Rolladen, der Dora nur knapp verfehlt, wird zur Guillotine, gesteuert von einem immer telekinetischer handelnden Marco.
„Der menschliche Leib“, sagt Sigmund Freud in den „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“, „findet im Traum häufig eine Darstellung durch das Symbol des Hauses.“ Bava lässt dabei die Interpretation offen, ob es sich bei dem Haus um eine Manifestation des toten Ehemanns handelt oder um die verstörte Psyche Doras (Daria Nicolodi in Bestform). Das schöne Haus mit Garten ist denn auch dreigeteilt in den oberen Stock (Über-Ich), das Erdgeschoss (Ich) und den Keller (Es) – wie wir das aus vielen anderen Horrorfilmen kennen -, und die Angriffe beginnen oben, bis Dora schliesslich derart aufgewühlt und destabilisiert ist, dass ein Ende mit attackierenden Schränken folgerichtig im Keller stattfindet.
Die Schaukel im Garten ist eine Besonderheit. Sie bewegt sich nachts wie von Geisterhand. Marco bemerkt sie, als er bei seiner Mutter schläft und kurz zum Fenster geht. Schaukeln als Moment des Verlusts der Schwerkraft, der normalen Regeln, führt zum Moment der Übertragung des bösen Geists auf Marco. In der Folge geht er zu seiner schlafenden Mutter und eine gespenstische, blutbefleckte Hand streicht ihren Hals entlang. Auch später im Film behält die Schaukel ihre geisterhafte Fernmacht. Das Hin- und Herschaukeln kann etwa die Großraummaschine, die Linienpilot Bruno fliegt, zum Wackeln bringen. Auch hier: Verlust der gewohnten Kräfte in der Luft.
Mit dem Geist kommt tatsächlich eine vierte „Person“ ins Spiel. Doras erster Ehemann, der starb oder … getötet wurde. „I must be sure if I killed him or not“ ist Doras verzweifelte Aussage. Sie weiss es nicht. War sie lediglich das Opfer eines psychotischen Junkies oder ist sie die Mörderin? Oder ist Marco derart in der Vergangenheit verhaftet, dass seine Gewalt aus einer Überhöhung seines wirklichen Vaters herrührt? Einen Vater, den es so ideal ohnehin nie gab, was Freuds These von Geistern, die letztlich die Angst vor eigenen Vernichtungswünschen symbolisieren, stützen würde? Oder ist letztlich alles doch anders?
Ohne alles zu verraten: Bavas SHOCK entpuppt sich als mehr denn eine eindimensionale psychologische Konstruktion der Familienverhältnisse. Alle vier oder fünf Mitglieder (Familie, toter Vater, Geist/Haus) handeln als Subjekte und sind gleichzeitig Objekte, die der Situation ausgeliefert sind. Der letzte Film Bavas ist alles andere als ein straighter Horrorfilm. SHOCK ist raffiniert verschachtelt und vielschichtig. Weder entspringen die seltsamen Begebenheiten Doras Psyche, noch ist Marco der Junge, der durch religiöse Erziehung zum paranormalen Horrorkind wurde (wie die Kids in OMEN und EXORZIST). Vielmehr ist er ein Produkt einer modernen Familienentwicklung (Stichwort: Scheidungen) und der Gefahren einer offenen Gesellschaft (Drogenvater, Mutter mit Sinnlichkeit). Den Film darum als konservativ abzustempeln, ist allerdings – ob seiner Vielschichtigkeit – zu kurz gegriffen.
Shock (Transfer – Suspence – Hypnos)
Italien 1977
Regie: Mario Bava
Darsteller: Daria Nicolodi, John Steiner, David Colin Jr., Ivan Rassimov
Laufzeit: 95 Minuten