Rückblickend waren nicht wenige Motive aus THE SUBSTANCE in Coralie Fargeats Kurzfilm REALITY+ bereits vorhanden. Gewisse Grundgedanken sind gleich, die Umsetzungen sind ähnlich, die Story unterscheidet sich dennoch signifikant. Im Gegensatz zur überdrehten Groteske THE SUBSTANCE handelt es sich im Kurzfilm von 2014 beinahe um einen Studiofilm mit Body Horror light.
Schönheit als Makeover über jeglicher Art von Persönlichkeit steht im Zentrum des Films. Der Realität ein „Plus“ überzustülpen bedeutet, aus sich ein gutaussehendes Wesen zu machen und so in einer besseren Welt zu leben, bzw. in einer optimierteren. Nachdem der nerdige Normalo Vincent Dangeville (Vincent Colombe) sich ein Implantat in einen Halswirbel einpflanzen ließ, kann er die Über-Realität aktivieren. Vor seinem Spiegel setzt er die Templates eines neuen Gesichts ein (Sexyboy-Faces von der Stange), zoomt seinen Oberkörper mit zwei Fingern auf und dreht an einer Stimmveränderung. Dann wird finalisiert. Der Spiegel fungiert von Anfang an als Fläche der Projektion. Während wir Vincent+ (Aurélien Muller) im Spiegel sehen, steht Vincent noch in seiner ganzen Normalität vor dem Spiegel. Fargeat lässt es auch im Verlauf des Films einigermaßen offen, ob nur Menschen in der Plus-Realität sich gegenseitig so wahrnehmen, oder ob sich Körper und Gesichter tatsächlich verändern. Der Besuch eines Clubs (Club+), der ausschließlich realitätsgesteigerten Beauties Zutritt gewährt, lässt beide Ansätze zu: Entweder treffen sich nur diejenigen dort, die sich als hübsch erkennen, um die Illusion nicht zu zerstören, oder es sollen sich nur übermenschlich-schöne Wesen am gleichen Ort aufhalten, weil sie eine Klasse für sich darstellen, die nicht vom Plebs gestört werden will.
Nicht nur Vincent+ ist nun unglaublich attraktiv, auch viele andere auf den Straßen sehen jung, heiß und begehrenswert aus, und alle sind scharf aufeinander – was aber im Film nicht zur Problematik der zu großen Auswahl führt, bei der man sich kaum noch für einen Menschen entscheiden kann, weil immer noch ein besserer Partner im (Online-) Raum stehen könnte (wie z.B. Eva Illouz das für den aktuellen Tinder-geprägten Beziehungsmarkt diagnostiziert): Unser Held Vincent+ verguckt sich schon auf den ersten Blick in eine überaus gutaussehende Behind-the-counter-Restaurantangestellte, die sich auch gleich in ihn, den fantastisch, leicht animalisch aussehenden Ex-Nerd verliebt. Stella+ (Vanessa Hessler) schreibt ihm ein paar drängende, schmachtende Worte auf die Rückseite der Rechnung.
Nun beginnt die Lovestory der beiden Topmodels, die nur durch ein Problem gebremst wird: Nach 12 Stunden läuft die Wirkung der Realität+ ab, und es dauert ein paar Stunden, bis man sie wieder nutzen kann. Das macht Fargeats Film auch zu einem Märchenfilm, wenngleich einem dystopischen, denn die willkürlich gesetzte zeitliche Beschränkung (die es ja auch in THE SUBSTANCE gibt) bezieht sich auf das Aschenputtel-Märchen, bei der die magische Transformation in eine Prinzessin nur bis Mitternacht hält. Diese zeitlichen Beschränkungen sind natürlich dramaturgisch wichtige Elemente, um Spannung und Dringlichkeit zu erzeugen. Während in Aschenputtels Geschichte der temporäre Zauber ein Sinnbild für Vergänglichkeit (des Schönseins, des „Junge-Frau-Seins“, der gesellschaftlichen Beschränkungen für Frauen) steht, kommt die temporäre Setzung in REALITY+ von einem (namenlosen, nicht näher definierten, aber überall werbenden) Unternehmen und wirkt so, als gehöre das zum Verwertungsprinzip des modernen Kapitalismus: Man kauft nicht ein Produkt, sondern immer wieder Updates und Abos. Alles ist limitiert, auch das Glück. (Die Kommerzialisierung positiver Emotionen wurde 2002 von der Diesel-Werbekampagne mit Maskottchen Donald Diesel in voller Ironie perfekt auf den Punkt gebracht: „Happiness is now sponsored by Diesel“).
Hinter dem Wunsch des Schönseins steht die gesellschaftliche Annahme, dass man als Normalbürger nicht in das Pattern eines aufregenden Lebens passt, dass Schönheit (und wohl Reichtum und Macht) eine Voraussetzung dafür darstellt und überhaupt erst das Recht zur Selbstverwirklichung gibt. Dementsprechend traut sich der nerdige Vincent kaum, das Mädchen vom Balkon nebenan anzusehen, während all die fantastisch aussehenden Plus-Menschen inkl. Vincent+ permanent flirtend-musternden Augenkontakt betreiben.
So wird in REALITY+ das Doppelgängermotiv aus Stevensons „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ zitiert und anders aufgeladen. Jekyll schaffte es in seinen Experimenten, das Gute vom Bösen zu trennen. In Fargeats REALITY+ wird das Normale vom Schönen nicht getrennt, sondern die enorme Attraktivität wird über das Normale drübergestülpt. Es ist keine Trennung in der Psyche, es ist ein Makeover an der Oberfläche (in THE SUBSTANCE wird es dann wieder eine Trennung sein: Ein neues, jugendliches Alter wird aktiviert). Vincent ist sich auch als Vincent+ bewusst, dass er eigentlich Vincent ist.
Hier geht es auch nicht mehr um das (Freudsche) Unbewusste. Während sich in Mr. Hyde das verborgene Unbewusste („hide“) Raum verschaffte, manifestiert sich in REALITY+ eher eine Art kindlicher Wunsch, sich dank der glatten, schönen Oberfläche aller psychischen Probleme entledigen zu können. Für die Psyche selbst scheint da nicht viel Gewinn drin zu sein – trotz eines sanft-kathartischen Happy-Ends.

Reality+
Frankreich 2014
Regie & Drehbuch: Coralie Fargeat
Kamera: Philip Lozano
Darsteller: Vanessa Hessler, Vincent Colmbe, Aurélien Muller, Aurélia Poirier, Samuel Trépanier u.a.
Laufzeit: 22 min.