Seit den 2010er Jahren bricht sich eine neue Art von Horrorfilm Bahn, die sich in der Wahrnehmung bisher mehr durchgesetzt hat als begrifflich, sprich: Es gibt (immer noch) kein allgemein gebräuchliches Label für Filme wie IT FOLLOWS, THE BABADOOK oder GET OUT. Am ehesten wird heute die Bezeichnung „Elevated Horror“ benutzt, der sich aber als etwas unscharf herausstellt. Mit einigem Recht benamst Adrian Gmelch denn auch das Genre in seinem neuen Buch als „Art Horror“. Wie weit diese neuen Horrorfilme wirklich von Kunst beeinflusst sind, legt er in seinem Buch sehr schlüssig dar, indem er den Spuren zweier Hauptvertreter des Genres folgt: Ari Aster und Robert Eggers. Die beiden sind nicht nur befreundet, sie haben sich zur Spitze der neuen Horrorfilmbewegung emporgehievt, zurecht, sind doch ihre Spielfilme THE WITCH, THE LIGHTHOUSE und THE NORTHMAN (Eggers, letzterer Film ist hier noch nicht berücksichtigt) und HEREDITARY und MIDSOMAR (Aster) durchweg unglaublich moderne und faszinierende Horrorstreifen, die von einem etwas anderen Spirit beseelt sind als die Durchschnittsware des Genres. Beide Regisseure setzen in ihren Filmen tatsächlich ausgesprochen kreativ und ausführlich Kunst, Geschichte, Filmkunst, Psychologie und Sound ein – und dementsprechend fasst Gmelch den Begriff „Art“ auch weiter als nur Fine Arts – als gesamtkulturelles Werk, das sich sehr bewusst aus allen Kunst- und einigen Wissenschaftsgattungen seine Ästhetik konstruiert. Was die Wissenschaft betrifft, so kommt vor allem der Geschichte in den Filmen Eggers eine besondere Bedeutung zu.
Gmelch geht in seinem Buch sehr didaktisch vor, was manchmal wie eine Schlaufe zu viel erscheint, doch der Autor vermag auch die Kapitel über filmische Einflüsse und frühe Kurzfilme so knapp und süffig zu schreiben, dass keine Langeweile einkehrt. Und mit zunehmender Seitenzahl wird „Art Horror“ zu einem immer interessanteren, lehrreichen Lesevergnügen. So walzt Gmelch etwa in der Definition von Horrorfilmen nicht endlos die bestehende, ausführliche Rezeption des Genres aus, sondern fokussiert ein paar wichtige Punkte und weiß den Theorien durchaus neue Aspekte abzugewinnen. Wie etwa der Hinweis auf die Average Shot Length (die durchschnittliche Länge einer Filmeinstellung bis zum nächsten Schnitt), die in keinem Genre so lange dauert wie im Horrorfilm. Oder neueste Forschungsergebnisse, was die kathartischen Effekte auf Körper und Seele von Horrorfilm sehenden Probanten betrifft. Man darf staunen.
Richtig spannend ist jedoch die Analyse der ersten beiden Aster- und der ersten beiden Eggers-Kinofilme, die wahrscheinlich die meisten LeserInnen von Splatting Image kennen dürften. In knappen Worten zeigt Gmelch zum einen die visuellen, künstlerischen, filmischen und historischen Einflüsse auf THE WITCH, THE LIGHTHOUSE, HEREDITARY und MIDSOMAR und zieht daraus nicht nur spannende psychologische Analysen, sondern verweist auch auf die gesellschaftlichen Stimmungen, die von den Filmen reflektiert werden. Denn nicht zuletzt sind Horrorfilme ja immer eine Verarbeitung der Zeit, in der sie entstehen. Art-Horrorfilme nehmen natürlich auch das Unbehagen über die permanenten Krisen in der westlichen Welt seit 2008 auf.
Der Name „Art Horror“ bezieht sich jedoch ganz konkret auf die unglaubliche Vielschichtigkeit der Filme. So ist zum Beispiel MIDSOMAR – wie die anderen Filme – völlig durchkomponiert: Das Grauen ist hell, ja weiß, der Film beinahe überbelichtet, von Weiß durchdrungen. Die schwedische Harga-Sekte, die sich der Protagonistin am Ende als psychische Rettung offenbart (was uns so sehr die Creeps gibt wie das Ende von ROSEMARY‘S BABY), weil sie ihr in ihrer emotionalen Befindlichkeit Halt gibt, ist gleichzeitig voller grusliger Rituale: Altentötung, Inzest, Folter und verstörende Sexualrituale. Gmelch legt in vielen Details dar, wie Ari Asters MIDSOMAR mit der Sekte eine Metapher für weißes, rassistisches Stammesdenken in unseren Demokratien geschaffen hat, vom kaum erkennbaren Buch „The Secret Nazi Language of Uthark“ in Christians Zimmer bis hin dazu, dass die ersten Toten der US-Touristengruppe die Nicht-Weißen sind. Aster erzeugt das unterschwellige Grauen des Films mit Hilfe eines Sounddesigns, in dem absolute Stille eine dominante Rolle spielt, mit Architektur- und Gemäldereferenzen an mystische Malerinnen wie Helga von Klimt und mit (bereits im Storyboard) völlig durchkomponierten Bildern, in denen „zynisch perverse Schönheit“ mit Gewalt und Brutalität verbunden wird. Wie zum Beispiel in MIDSOMAR die Blutadler-Szene, in der Simon an der Decke aufgehängt wird, mit hochgestellten Rippen und den herausgenommenen Lungen, die wie Flügel aussehen und die rituell mit Blumen drapiert sind. (Der Inszenierung von Mordopfern als künstlerische Skulptur begegnen wir übrigens auch immer wieder im modernen Serialkiller-Krimi – dargelegt etwa in der Rezension zu DIE BRÜCKE.)
Gmelchs Buch nimmt die vier wichtigen Erstlingswerke der beiden Regietalente genau unter die Lupe. Das aber auf unterhaltsame Art und in dem Sinne unakademisch, als dass Leserin und Leser nicht von intellektuellen Formulierungen überwältigt werden sollen, sondern nach der Lektüre einfach mehr wissen. Mehr über modernen Horror. Mehr über Kunst, Künstler, tolle Filmregisseure wie Bergman oder Losey, Filmstile, Geschichte, Ausstattung, Literatur, Sigmund Freud. Und viel mehr über die Filme dieser zwei Regisseure, von denen wir wohl noch viel hören werden. Gmelch ist mit „Art Horror“ ein sehr anregendes Buch gelungen.
Adrian Gmelch: Art-Horror. Die Filme von Ari Aster und Robert Eggers. Büchner-Verlag, Marburg 2022. 258 Seiten mit Abbildungen, € 27,-